Angelika Klüssendorf - April

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«Klüssendorfs Mädchen ist eine Heldin unserer Zeit» (Die Zeit) — und nun wird es erwachsen.
Die Kindheit ist vorüber, aber erlöst ist das Mädchen deshalb noch lange nicht. Nach ihrem hochgelobten Roman» Das Mädchen «schreibt Angelika Klüssendorf die Geschichte ihrer jungen Heldin fort. Ihr Weg führt aus einer Jugend ohne Jugend in ein eigenes Leben — das den Umständen abgetrotzt werden muss.
Am Anfang stehen ein Koffer mit ihren spärlichen Habseligkeiten und ein Zimmer zur Untermiete. Das Mädchen, das sich mittlerweile April nennt — nach dem Song von Deep Purple —  hat die Zeit im Heim hinter sich, die Ausbildung abgebrochen und eine Arbeit als Bürohilfskraft zugewiesen bekommen. Zwischen alten Freunden und neuen Bekannten versucht sie sich im Leipzig der späten 70er-Jahre zurechtzufinden, stößt dabei oft an ihre eigenen Grenzen und überschreitet lustvoll alle, die ihr gesetzt werden, am Ende mit ihrer Ausreise auch die zwischen den beiden Deutschlands. Aber jedem Ausbruch folgt ein Rückfall, jedem Glücksmoment eine Zerstörung, jedem Rausch die Ernüchterung. Und immer ist da die Frage nach den Kindheitsmustern, der Prägung durch die verantwortungslose Mutter und den alkoholkranken Vater.
Angelika Klüssendorf ist ein weiteres Meisterwerk gelungen. Ohne Pathos, nüchtern und souverän erzählt sie von einem Weg aus der scheinbar ausweglosen Vergangenheit — mit psychologischem Feingefühl und klarem Blick für die gesellschaftlichen Zustände. Es entsteht ein Doppeltes: ein erschütternder Adoleszenzroman und ein nüchternes Porträt der sozialen Zustände im untergegangenen real existierenden Sozialismus — und im West-Berlin der frühen 80er-Jahre.

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Während sie gemeinsam die Schnecken vom Auto klauben, versucht sie ihn aufzuheitern. Unterwegs im Auto sieht sie ihn an und lächelt. Eine Zurückweisung würde sie nicht ertragen.

Hans deutet auf die verschmierte Frontscheibe, was hast du nur angerichtet, sagt er, und sie ist dankbar für sein Lächeln, auch wenn es gezwungen wirkt. Die Scheibe sieht aus, als hätte ein Riese sie bespuckt. Spätabends kommen sie an. Von einer Mückenwolke begleitet, folgt sie ihm über den schmalen Uferweg zu einem Steg, der an einem Bungalow endet. Hans zieht den Schlüssel aus seiner Jackentasche, auf Anhieb gefunden, sagt er. Die Tür knarrt beim Öffnen, als würde sie sich wehren, drinnen ist es dunkel und stickig, Hans zündet eine Kerze an und hält sie hoch. An den Wänden hängen Poster mit Fischen drauf, in einer Ecke stehen fein säuberlich aufgereiht bunte, glänzende Angeln.

Ich hab Hunger, sagt sie.

Besser nicht ans Essen denken, sagt Hans, kann sein, dass nichts da ist.

Es wird schon was geben, sagt sie und öffnet einen Schrank, sucht überall und findet nichts. Wir könnten Fische fangen.

Lass bloß die Angeln in Ruhe, sagt er, sind nicht unser Eigentum.

Nicht unser Eigentum, äfft sie ihn nach, na und? Sie schaut durch das winzige Fenster, auf dem Wasser schimmern weiße Seerosen.

In einem Schuhregal entdeckt sie neben Gummistiefeln und Jesuslatschen eine Flasche Rum. Ich hab was gefunden, ruft sie und hält ihm triumphierend die Flasche vor die Nase.

Ich weiß nicht, sagt Hans, wir können die nicht einfach aufmachen.

Wer hindert uns daran?

Wir müssten sie ersetzen. Ist dir das nicht klar?

Ist mir egal, sagt sie. Auf ihrer Oberlippe stehen Schweißperlen. Sie geht nach draußen, öffnet die Flasche, ihre Knie werden weich nach dem ersten Schluck. Hans kommt zu ihr mit einer Tüte Keksen in der Hand.

Ich könnte die ganze Welt aufessen und wäre immer noch hungrig, sagt sie und nimmt sich einen Keks. Wo hast du die her?

Es gibt eine Vorratskammer.

Ein kleines Boot schaukelt am Steg zwischen Seerosen, der ganze See ist mit ihrem Weiß bedeckt, wunderschön, sagt sie und beugt sich über das Wasser, um eine Blüte zu pflücken.

Hans lacht laut.

Was ist los, fragt sie.

Nichts, sagt er, gar nichts.

Sie reden über» Schuld und Sühne«. Wäre Hans Schriftsteller, würde er ein Buch schreiben, das keinen Anfang und kein Ende hätte.

Wie willst du das machen, sagt sie, der Anfang ist doch da, mit dem ersten Wort.

Darum geht es nicht. Es ist ein Konzept. Du kannst das Buch in der Mitte aufschlagen und zu lesen beginnen, ohne etwas verpasst zu haben.

Da sitzt du jahrelang dran, sagt sie, das ist wie ein Puzzle.

Oder wie die Bibel. Hans starrt auf den See hinter ihr.

Die Flasche ist halb leer, wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie den Mond zwei- bis dreimal am Himmel sehen. Alle paar Sekunden schlägt sie eine Mücke tot, die sich vorher an ihrem Blut gelabt hat. Die Viecher spürt man erst, wenn es zu spät ist, sagt sie.

Mich wollen sie nicht, sagt er, saures Blut.

Die Nachtluft ist erfüllt von Geräuschen, die sie überdeutlich wahrnimmt, ein stetes Schwirren und Summen, Schilfgeraschel, in der Ferne meint sie Kuhglocken zu hören, ganz nah springt ein Fisch.

Sie erwacht auf dem Steg, mit schmerzendem Rücken, ihre Kehle fühlt sich an wie zugeklebt. Die Morgensonne sticht viel zu grell vom Himmel herab. Die Nacht hat mit einem Streit geendet, sie entsinnt sich ihrer Ohnmacht und der Worte von Hans, sie würde ihn in den Wahnsinn treiben — dabei ist sie dem Wahnsinn nahe gewesen: Jeden ihrer Gedanken hat er bedeutungsschwer zu Ende führen müssen, als komme es gar nicht darauf an, was sie sagt. April spürt immer noch die Wirkung des Alkohols, doch gleichzeitig auch Erleichterung, als sie sich klarmacht, dass sie einfach fortgehen kann. Sie holt ihre Sachen aus der Hütte, geht leise an Hans vorbei, der auf einer Luftmatratze liegt. Sein Atem geht schnell und flach, sie beeilt sich, rauszukommen, ehe er aufwacht. Sie verlässt die winzige Insel, neben der sich weitere winzige Inseln befinden, mit kleinen Hütten drauf, wie ein Unglück am anderen, denkt sie, kommt an Gärten vorbei, Mücken summen an ihrem Ohr. Sie fühlt sich verkatert, klamm und schmutzig. Die Insellandschaft liegt hinter ihr, sie geht über staubige Wege, Straßen, die plötzlich aufhören, und nach einer Weile trottet sie nur noch dahin. Die sandige Ebene geht über in einen Wald, die Sonne sticht aus dem Nichts. Sie klettert auf einen Hochsitz und sieht nur Kiefern ringsherum, knarrende Kiefernwipfel, erschöpft bläst sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie denkt an den nächtlichen Streit mit Hans, an seine Worte: Wer mir nicht folgt, der bleibt zurück. Für sie klingt das wie eine Parteitagsparole. Sie versteht wieder einmal nicht, was er damit sagen will; doch wenn er es ausspricht, klingt es unumstößlich. Warum streiten sie sich so oft bis zur Erschöpfung, wie zwei Schwimmer, die sich zu weit hinausgewagt haben? Werden sie irgendwann ertrinken? Inzwischen plagen die Mücken sie von Kopf bis Fuß, sie sieht zu, wie eine sich auf ihrer Hand vollsaugt, und als das Rot in dem winzigen Körper aufscheint, zerquetscht sie das Insekt. Blödes Vieh, ruft sie, blödes, blödes Vieh. Sie läuft rastlos über ausgetretene Waldpfade, durch dichtes Gestrüpp, stört sich nicht an den Kratzern, verflucht sich, weil sie von Himmelsrichtungen keine Ahnung hat. Sie kann nicht mehr klar denken, bleibt stehen, schließt die Augen. Sie wird einfach weiterlaufen, irgendwann muss der Wald ja aufhören. Ihr ist schwindlig, vor ihren Augen wabert es weiß, als hätte sich die Sonne in Nebelfetzen aufgelöst. Als hinter einem Hügel endlich eine kleine asphaltierte Straße sichtbar wird, atmet sie tief durch. Nach einer Weile hört sie ein Auto hinter sich und bleibt stehen. Ein Trabant hält neben ihr, der Mann am Steuer kurbelt die Scheibe herunter und fragt, was sie hier zu suchen habe. Sie versteht die Frage nicht. Das hier sei Privatbesitz, erklärt ihr der Mann, das Land gehöre ihm, und sie solle gefälligst verschwinden. Gefälligst? Sie schreit den Mann an, was er sich denn einbilde, ein so großer Wald könne niemals einem Einzelnen gehören. Ihre Wut entlädt sich wie in einem Gewitter, der Mann betrachtet sie entgeistert, als würde sie einer besonderen Spezies angehören.

Es dauert Stunden, ehe sie die Autobahn erreicht, und weitere Stunden, bis sie endlich ihre Wohnungstür aufschließen kann.

10

Dass Männer sie schön finden, kann sie nicht verstehen. Als würden die Blicke nicht ihr gelten, sondern der Idee von ihr; sie betrachtet ihren Körper wie einen ihr zugewiesenen Körper, er muss nützlich und belastbar sein. Sollte jemand versuchen, sie zu verprügeln oder ihr sonst wie Gewalt anzutun, ihr Körper würde sie verteidigen wie eine Maschine. Gewalt ist für sie nach wie vor ein normaler Bestandteil des Lebens, auch wenn sie sich davon zu lösen versucht.

Im Museum sitzt ihr seit ein paar Tagen ein neuer Kollege gegenüber. Er heißt Silvester, der Name kommt ihr erfunden vor, seine Haut ist gebräunt, so dunkel, dass sie die Akneflecken, die sich wie eine Kraterlandschaft über sein Gesicht ziehen, zuerst nicht bemerkt. Sein Blick ist der eines Raubvogels. April findet den jungen Mann auf eine verwegene Art attraktiv. Er ist ihr von Anfang an vertraut, so als wäre er schon immer da gewesen.

Hast du» Hundert Jahre Einsamkeit «gelesen, fragt er, wenn nicht, musst du es unbedingt lesen, es wird dir gefallen. Wenn Silvester lacht, wirft er den Kopf in den Nacken und wiehert laut los. Er hat einen Plattenspieler mitgebracht, während der Mittagspause tanzen sie zu der Musik von Ernst Busch.

Sag mal, heißt du eigentlich Hans, fragt er sie einmal, und als sie nicht antwortet, fährt er fort, du beginnst jeden Satz mit: Hans hat gesagt.

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