Sie versucht ihm zu erklären, dass sie mit Hans über alles spricht und er stets den abschließenden Gedanken hat — sie käme sich wie eine Hochstaplerin vor, wenn sie seine Schlussfolgerungen als ihre ausgäbe. Es ist, als würde Hans seine Unterschrift unter meine Worte setzen, sagt sie, und erst als Silvester in sein lautes Lachen ausbricht, wird ihr klar, wie komisch das klingt.
Ich lerne Pygmalions Galatea persönlich kennen, sagt Silvester, welch eine Ehre. Und wenn dein Hans auf die Idee käme, du solltest dich nur noch von Luft ernähren, würdest du es tun?
April ärgert sich, aber sie weiß nicht einmal, wer Galatea ist.
Bisher war sie nur in der Bücherei um die Ecke, nun meldet sie sich in der deutschen Bücherei an, verlängert ihre Mittagspause bis in den späten Nachmittag. Zuerst ist sie eingeschüchtert von den hohen Räumen, dem bedeutsamen Schweigen, all den Bücherrücken, womit soll sie nur beginnen? Sie liest über Pygmalion, stöbert im klassischen Altertum, in der griechischen Mythologie, lernt die Namen der Musen auswendig. Wie eine Schülerin erledigt sie ihre Aufgaben, doch erst als sie die Traumdeutung von Freud liest, springt ein Funke über. April kann sich nie an ihre Träume erinnern, bis auf einen, der in verschiedensten Variationen wiederkehrt: Sie verpasst den Zug, sitzt im falschen Abteil, hat keine Fahrkarte oder fährt in die verkehrte Richtung.
Später entdeckt sie Otto F. Kernberg und andere Psychologen und stellt so fasziniert wie erleichtert fest, dass sie nicht auf ewig in ihrem Gefühlschaos schmoren muss — sie kann etwas ändern. Anfangs identifiziert sie sich mit jedem Krankheitsbild, erkennt sich mal als Borderlinerin, mal als Hysterikerin wieder, überlegt, ob sie infantil ist, narzisstisch, eine antisoziale Persönlichkeit. Doch dann lernt sie zu begrenzen: Je nach Konvention kann alles Mögliche als antisozial bezeichnet werden. Wenn sie Begriffe wie» frei flottierende Angst «in ihren Schnellhefter überträgt, hat sie das Gefühl, etwas zu verstehen. April fühlt sich gemeint.
Abends kann sie es gar nicht erwarten, Hans davon zu berichten. Doch kaum ist sie fertig, wiegt er zweifelnd den Kopf hin und her: Das ist schön und gut, sagt er, aber wir sollten es nun gemeinsam zu Ende denken. Wenn er diesen Satz ausspricht, schlägt in ihrem Kopf eine Tür zu; sie kann sagen, was sie will — er muss immer seinen abschließenden Punkt setzen. Sie weiß nicht, wie man sich behauptet, auf Art der Erwachsenen, wie man sich durchsetzt, Gehör verschafft — sie spürt nur ein Brodeln, ein unaufhaltsames Brodeln in sich, wenn er diesen Satz ausspricht.
Ihre Vorstellung von Familie hat sich lange darauf beschränkt, dass sie mit ihren Geschwistern ein Haus im Wald bewohnen würde. Schon als sie sechsjährig in der Küche stand und Kartoffeln schälte, baute sie in Gedanken das Haus, richtete es ein, während ihre Mutter tobte und wütete. Das Haus sollte sie nicht nur vor Unwetter schützen, sondern auch als stets verlässliche Zuflucht dienen, wenn sie angeschlagen und voller Wunden von ihren Ausflügen zurückkehrte.
Später dann die Vorstellung: Jemand würde sie brauchen. Doch dafür müsste er alt sein, krank, bettlägerig. Ihre Aufgabe wäre es, ihn zu pflegen; er hätte einen Hund, vielleicht auch zwei, mit denen könnte sie dann herumtollen. Es gab in diesem Entwurf keine Art von Zärtlichkeit oder Sexualität, wichtig war nur: Ein alter, kranker Mann würde sie nicht so schnell fortschicken.
Und nun gibt es Hans, es gibt ihren Sohn. Sie sagt sich oft: Was für ein Glück, ein gesunder junger Mann statt eines kranken Alten und ein gemeinsames Kind. Aber es sind nur Worte, in Wirklichkeit ist ihr Familienleben Schwerstarbeit, so kompliziert, als müsste sie Hieroglyphen entschlüsseln. In ihrem Innern, unter der letzten Rippe — sie hat es einmal genau erkundet — , sitzt ein scheußlicher Knoten, und immer wenn sie sich aufregt, löst sich der Knoten und verschießt rote Wutpfeile, und diese Pfeile haben so eine Wucht. Sie hat schon alles versucht, um diesem Zustand nicht ausgesetzt zu sein, hat sich Zeichen auf die Hand gemalt, Warnschilder in der Wohnung aufgestellt, ist durch den Wald gelaufen. Sie fragt sich, wo die Macht ihrer Mutter endet. Manchmal hat April das Gefühl, der Zorn ihrer Mutter würde wie eine Ascheschicht auf ihrem Herzen liegen. Als sollte sie nie frei atmen dürfen, als würde ihre Mutter noch immer versuchen, alles Gute und Lebendige in ihr zu vernichten.
Sie stellt sich auch die Frage, warum Hans ausgerechnet mit ihr zusammen ist. Sie sei sehr empfindsam, hat er einmal gesagt, und er könne sich vorstellen, dass sie ohne viel Aufhebens, einfach so, aus dem Fenster springen würde. Ohne viel Aufhebens? Ob er sie verwechselt? Möchte er, dass sie aus dem Fenster springt? Sie kann sich nicht vorstellen, von ihm getrennt zu sein. Er scheint Dinge über sie zu wissen, die ihr selbst verborgen bleiben.
Sie wäre gern wie diese anderen Mütter, die den Alltag anscheinend mühelos bewältigen, doch nichts ist ihr beschwerlicher als ein routinierter Tagesablauf, Spaziergänge im Park, Enten füttern oder Lamas anschauen. Es ist, als wäre dieses Leben eine Sache von Jahreszeiten und würde wie ohne ihr Zutun ablaufen.
April bereitet sich auf die erste Überprüfung ihres Arbeitsplatzes vor. Wie benimmt sich jemand, der nicht ganz richtig im Kopf ist? Was muss sie tun, damit sie weiter im Museum arbeiten darf? Sie flitzt über die langen Korridore, schlägt Rad, verharrt Ewigkeiten im Handstand an der Wand. Sie starrt ihr Gegenüber fragend an, als wüsste sie nicht mehr, wer da vor ihr steht. Ihre Freunde im Museum wissen Bescheid, die anderen Kollegen reagieren betreten oder schauen weg, wenn sie sich wie eine Irre aufführt. Doch es hätte dieser Vorbereitungen gar nicht bedurft: Die Kontrolleurin, eine ältere Frau, mit beachtlicher Kinnwarze, möchte nur wissen, warum April ihre Kollegen so großzügig mit Spitznamen bedacht hat. Die Frau verzieht keine Miene, als April ihr erklärt, dass der Kollege aus der Tischlerei nach Schweiß stinkt und sie ihn deswegen Atoll nennt, nach dem Deo. Der Überstudierte aus dem Magazin schwebt wie ein Wüstenschiff an ihr vorbei, deshalb ruft sie ihn Kamel, und ihre Chefin ist die Sanfte, weil sie an eine Figur von Dostojewski erinnert. April kann den Blick nicht von der Warze nehmen, sie möchte sie der Frau einfach aus dem Gesicht pflücken und wegschnipsen.
Alles in Ordnung, fragt die Frau.
April nickt. Alles ist in Ordnung, in allerbester Ordnung.
Du hast eine gute Idiotin abgegeben, sagt Silvester, Prüfung bestanden. Es hat dir ja richtig Spaß gemacht, und du hast kein einziges Mal Hans gesagt.
Als am nächsten Tag im Vorführsaal des Museums ein Treffen der Parteifunktionäre stattfindet, die sich einen Film über den Klassenfeind ansehen, kommt April auf die Idee, für einen Kurzschluss im Sicherungskasten zu sorgen. Als es im Saal dunkel wird, entsteht ein großes Durcheinander, laute, verwirrte Rufe schallen durch die Gegend, und April beobachtet alles wie einen gelungenen Streich. Sie feilt an ihren vermeintlichen Macken, schafft es sogar, auf Händen durch den Korridor zu laufen, im Anwesenheitsbuch hinterlässt sie statt Uhrzeit und Unterschrift lustige Zeichnungen. Bei der Feier einer Gruppe von Parteimitgliedern zerstört sie die mit Friedenstauben bedruckten Luftballons, blitzschnell sticht sie mit einer Nadel einen nach dem anderen ab, es dauert jeweils nur ein, zwei Sekunden, doch ihr kommt es unendlich lang vor. Die Feiernden reagieren zuerst verblüfft, dann wütend, als hätte April ihre Würde verletzt. Sie muss Silvester immer wieder erzählen, wie es knallte und die Funktionäre völlig schafsköpfig dastanden, in der Hand den Stock mit dem zerfetzten Gummi. Niemand stellt sie deswegen zur Rede. Doch als sie einmal im Sekretariat Zettel mit einem Spendenaufruf für einen jungen Kollegen verteilt, der seinen Armeedienst absitzen muss, wird sie einbestellt.
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