Sie muss unbedingt mit jemandem darüber sprechen. Sie sagt Hans nichts davon, dass sie zu Silvester nach Naumburg fahren wird. Sie nimmt die oft benutzte Ausrede, dass sie bei einer Freundin übernachtet.
Sie sieht durch das Abteilfenster zerklüftete Berge an sich vorbeiziehen, Bäume mit Laub aus rostigem Gold, Fichten auf schiefergrau glänzenden Hängen, dazwischen kleine Gehöfte, das Wort Heimat kommt ihr in den Sinn.
Silvester wohnt unter dem Dach eines Abrisshauses. Er ist längst informiert über die Kerzenaktion vorm Kino, er war sogar eingeweiht. Silvester plant, sich öffentlich anzuketten und tagelang zu hungern, bis alle wieder frei sind. April ist befremdet, ihn so reden zu hören; sie würde zwar gern dazugehören, aber es käme ihr wie Betrug vor, sie würde sich dabei selbst nicht ernst nehmen.
Abends besuchen sie einen Musikprofessor, in dessen Wohnung sich Studenten treffen, um Musik zu hören und darüber zu reden. Diesmal ist Schönberg dran, und nachdem die letzten Töne verklungen sind, diskutieren sie mit großer Ernsthaftigkeit über Wahrheit und Disharmonie.
Am nächsten Morgen fährt sie mit Silvester nach Leipzig zurück. Sie stellen sich vor das Gebäude, in dem sie die Verhafteten der Kerzenaktion vermuten. Silvester hält ein Feuerzeug hoch, knipst die Flamme in unregelmäßigen Abständen an und aus, er morst. Als sie ihn fragt, was er morst, sagt er: Würde, das Wort Würde. Es kommt ihr falsch vor, dass sie sich in Freiheit befinden und dieses Wort morsen, während die anderen nur zusehen können. Würde ist ein zu großes Wort für den, der draußen steht.
Nun hat auch Babs einen Ausreiseantrag gestellt — es scheint ansteckend zu sein. Ihr Vater wurde sofort von seinem Schiff aus Kanada eingeflogen, natürlich darf er nicht mehr als Kapitän arbeiten. Obwohl Babs mit dieser Art von Sippenhaft gerechnet hat, ist sie am Boden zerstört. Für ihren Vater hat die Hochseefischerei alles bedeutet, und ein treuer Parteigenosse ist er auch stets gewesen.
Ein Beamter fordert Hans ganz unverblümt auf, ihn mit seinen Anträgen zu verschonen und sich vorzusehen, nachts allein auf der Straße, er könne sonst einfach tot umfallen.
Die Teilnehmer der Kerzenaktion sind zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Diese Entscheidung kommt April nicht nur unangemessen, sondern auch hirnverbrannt vor: Eine solche Strafe muss doch jeden noch so großen Kindskopf zwangsläufig zu einem Revolutionär machen. Sie will Susanne besuchen, doch sie wird nicht vorgelassen.
April ist so wütend, dass sie wieder zu klauen beginnt. Sie hatte Hans zuliebe damit aufgehört. Nun fühlt sie sich ruhiger, fast entspannt, wenn sie den Konsum vollgepackt verlässt, mit Brot, Butter, Käse, allem, was sie zum Leben brauchen. Sie klaut wie ein Weltmeister und rechtfertigt ihr Verhalten damit, dass sie aus diesem Land nicht rauskommt.
Die Arbeit am» Anschlag «führt sie ohne Susanne fort, sie schreibt ihrer Freundin lange, ausführliche Briefe.
Damit hat April nicht gerechnet: Sie ist für die Aufnahmeprüfung im Literaturinstitut zugelassen worden. Das hält sie zunächst für eine Finte, denn natürlich wird man dort von ihrem Ausreiseantrag wissen. April wird so oder so in den Westen gehen, und das gibt ihr ein Gefühl von Überlegenheit, auch wenn sie der Prüfung entgegenfiebert. Zehn Sätze, die sich ein sozialistischer Schriftsteller über den Schreibtisch hängen sollte — so lautet die Prüfungsfrage. Der Raum sieht aus wie ein Klassenzimmer, die Luft ist zum Schneiden, ungefähr zwanzig Leute sitzen an schmalen Zweiertischen. Aprils Nachbarin ist eine ältere Frau, die sofort nach dem Startzeichen zu schreiben beginnt. Als April auf deren Blatt linst, rückt die Frau von ihr ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Natürlich ist sie keine sozialistische Schriftstellerin, und Sätze über dem Schreibtisch findet sie ohnehin dämlich. Durch das offene Fenster dringt das Pfeifen der Stare. April kann einen riesigen Schwarm erkennen, der sich auf einer Rotbuche versammelt hat, es klingt für sie, als wollten die Vögel ihr etwas zurufen, spett, spett, ein Donnergesang aus tausend Kehlen — der Gesang legt sich über die zäh vergehenden Minuten, sie muss an Trakl denken, den sie gerade liest, was hätte der geschrieben? Ihr fällt nichts ein, sie gibt nur leere Blätter ab.
In den ersten Wintertagen schenkt August ihr den Sommer. Er hat die Wände seiner Wohnung mit bunten Blumen bemalt, auf dem Boden stehen Topfpflanzen, er hat sogar Erdbeeren aufgetrieben, Erdbeeren im Winter, das grenzt für sie an Zauberei. Sie lieben sich unter der knisternden Heizsonne. Es fällt ihr nach wie vor schwer, Begehren oder Freude zu zeigen. Ihr ist eher nach Heulen zumute, der Teppich kratzt an ihrem Rücken, sie liegt angespannt da, sieht durch das Fenster die Umrisse einer schneebeladenen Kiefer und ächzt laut auf, als wäre sie der Baum mit seiner kalten Last.
Wenn sie sich streiten, nimmt April das Glas mit den Goldfischen und verschwindet, doch sie kommt immer wieder. Seine Punkband heißt längst nicht mehr Augustapril. Läuft es eine Weile gut, wird sie misstrauisch, fordert ihn so lange mit ihren Provokationen heraus, bis die Fetzen fliegen und sie sich wieder auf vertrautem Terrain befindet.
Der Schnee glänzt einen Augenblick lang wie frisch lackiert, ehe er grau wird, so grau wie der Himmel. April macht sich jedes Wochenende auf den Weg ins Museum, weil sie nicht mehr weiß, ob sie den Heizschuh ausgeschaltet hat oder nicht. Der Anflug von Panik weicht Erleichterung, wenn sie aus der Straßenbahn steigt und das Museum wohlbehalten vorfindet. Es ist ein Teil ihrer Routine, die sie die Tage verbringen lässt, als hätte es nie einen Ausreiseantrag gegeben.
Der Sicherheitsbeamte des Museums bittet die Mitarbeiter einzeln zu sich. Als April ihm gegenübersitzt, starrt sie gebannt auf sein dünnes Haar, die Kopfhaut darunter zuckt. Herr Blümel kommt ihr in den Sinn, sie sollte sich bei ihm melden, denn sie hat gehört, dass Vitaminmangel so ein Zucken auslösen kann. Erst nach einer Weile begreift sie, was der Sicherheitsbeamte ihr mitteilen will: Im Falle einer Havarie, einer Naturkatastrophe oder beim Ausbruch des dritten Weltkrieges sei sie für die Evakuierung bestimmter Objekte aus dem Bereich Südostasien verantwortlich. Ein Bote würde sich bei ihr melden, sollte es zu einer dieser Heimsuchungen kommen, und ihr das Codewort sagen. Der Sicherheitsbeamte verstummt und sieht sie lange an. Das Codewort, fährt er fort, sei nur für ihre Ohren bestimmt und natürlich für die des Boten. Dann sagt er: Alpha drei, und seine Stimme klingt, als würde er beten, Alpha drei, bitte nicht vergessen, und behalten Sie es auf jeden Fall für sich.
Zunächst ist sie verunsichert, ihre Kollegen ebenfalls, sie wechseln betretene Blicke, niemand spricht die Sache an. Auch Hans weiß sich darauf keinen Reim zu machen. Heimsuchung? Dritter Weltkrieg? Alpha drei? Sie fragt sich, ob tatsächlich eine reale Gefahr besteht, doch nichts deutet darauf hin, auch in den Westnachrichten nicht. In der Nacht läuft sie schlaflos durch die Wohnung, sitzt am Bett von Julius, lauscht seinen Atemzügen. Doch bei Tageslicht erscheint ihr die ganze Angelegenheit eher lächerlich und nach genauerer Überlegung regelrecht verrückt.
In der Mittagspause bleibt sie am Eingang der Kantine stehen, betrachtet den Direktor, den Sicherheitsbeamten — die ganze Besatzung sitzt rauchumwölkt beim Kaffee. Sie ruft dem Sicherheitsbeamten laut zu: Alpha drei, ich grüße Sie. Es wird still, und sie wiederholt laut und deutlich: Alpha drei. Das ist mein Codewort, ich habe es nicht vergessen.
Nach diesem Vorfall bestellt der Sicherheitsbeamte wieder jeden Mitarbeiter einzeln in sein Zimmer und erklärt die Aktion für abgeblasen. April wird als Einzige nicht einbestellt; ihr Status als Verrückte erweist sich ein weiteres Mal als Schutz.
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