Sie haben von einem Psychiater gehört, der den Ausgereisten aus dem Osten ohne viel Aufhebens einen Krankenschein ausstellt; das ist wichtig, um das Arbeitslosengeld, das sie später beziehen werden, zu verlängern. Der Warteraum ist überfüllt, die Dialekte sind April vertraut, und kurz glimmt ein Gemeinschaftsgefühl auf: Wäre alles wunschgemäß gelaufen, müsste keiner von ihnen in diesem Wartezimmer sitzen — aber immerhin, man hat es bis hierher geschafft.
April weiß nicht, ob und wie sie dem Arzt etwas vorspielen soll, doch als sie ihre Symptome aufzählt, stellt sie fest, dass sie tatsächlich nicht schlafen kann, dass ein Nebel ihr ständig den Blick verstellt. Nach ihren Erwartungen befragt, fällt ihr keine brauchbare Antwort ein; auch später nicht, als sie allein ist und sich selbst die Frage stellt.
Das Gesicht in ihrem neuen Ausweis ist April fremd. Besondere Merkmale: keine. Sie hat Heimweh. Immer wieder lässt sie Hans mit Julius allein und geht zum Grenzübergang. Immer wieder bekommt sie den Ausweis mit dem Argument zurück, sie sei eine unerwünschte Person. Auch wenn sie damit gerechnet hat, schnürt ihr die Enttäuschung die Luft ab. Der Ablehnungsstempel auf dem eingereichten Tagesvisum ist ein Dokument ihrer Demütigung. Eins, zwei, drei, vier und auf Wiedersehen. Sie wollen noch eine Demütigung? Bitte! April meint in den Gesichtern der Grenzbeamten Schadenfreude wahrzunehmen: Was, du willst hier rein? Erst raus und dann wieder rein? Pustekuchen, du Wurm. Du hast dein Land verraten.
Als sie das erste Krankengeld erhält, geht sie in einen Buchladen, der etwas versteckt neben einem Seitenausgang des Bahnhofs liegt, stöbert stundenlang herum, ohne zu wissen, ob sie in einer Art Vorhölle oder im Paradies gelandet ist. Die Vielzahl der vor ihr ausgebreiteten Schätze beunruhigt sie, wie soll sie hier eine Entscheidung treffen? Nach nächtelangem Grübeln kauft sie eine Werkausgabe von Beckett, in blaues Leinen gebunden, und ein Kinderbuch für Julius, das sie an ein Buch aus ihrer Kindheit erinnert.
Nach zwei Monaten haben sie eine annehmbare Wohnung gefunden, drei Zimmer im Erdgeschoss, vor dem Balkon ein winziger Garten, vierhundertdreißig Mark Warmmiete. Der Frühling bricht ohne Vorboten durch das Grau der letzten Märztage. Während Möwen im hellen Tageslicht kreischen, kommt der Lastwagen mit ihren Möbeln an. April hat sich darauf gefreut, all die vertrauten Dinge wieder zu sehen, die Wohnung damit einzurichten, doch beim Auspacken stellt sich nur Fremdheit ein. Die Bücher haben einen modrigen Geruch angenommen, sehen im Regal neben den neuen Büchern verschlissen aus.
Als sie Telefon haben, wählt sie eines Nachts die Nummer der» Csárdás «und spricht mit Irma, danach ist ihr übel vor Heimweh. Tagelang wird sie von der Sehnsucht nach ihrem alten Leben gequält. Sie kann sich auf nichts konzentrieren, und jeder Versuch, Munterkeit zu zeigen, verkommt zu einer Art Parodie: Sie lacht zu schrill, hastet rastlos umher, zwischendurch sitzt sie da und heult. Manchmal steht sie irgendwo und hat keine Ahnung, wie sie dort hingekommen ist, als wäre sie von einem großen Maul verschluckt und dann wieder ausgespien worden.
Hans tut so, als wäre alles in Ordnung. Wenn er April berührt, schiebt sie seine Hand weg. Sie sprechen nie darüber, wie es ihnen geht, gemeinsam, allein, sie haben dafür keine Worte. April schluckt ihr Unbehagen hinunter, bis sie so unter Strom steht, dass sie alles herausbrüllt. Manchmal sieht sie Hans an und versucht herauszufinden, was er überhaupt von ihr erwartet oder von sich selbst. Sie kann weder ihre Liebe noch seine mehr fühlen. Am liebsten würde sie die Liebe in Flaschen abfüllen, um bei Bedarf Tropfen für Tropfen parat zu haben.
Immerhin kann sie sich zur Fahrt nach Prag aufraffen, um August zu treffen. In einem seiner zahlreichen Briefe hat er ihr seine abgeschnittenen Fingernägel geschickt, April hat sie angeekelt die Toilette hinuntergespült. Seine Punkband heißt inzwischen ATA, nach dem Scheuersand, und all seine neuen Songs sind April gewidmet. Er schreibt, dass er sie liebt, sich nach ihr sehnt. Sie weiß nicht, was sie sich von dieser Begegnung verspricht, sie spürt kein Verlangen nach ihm, höchstens nach einem Stück ihres alten Lebens. Sie erzählt Hans, sie wolle in Prag eine Freundin treffen; ein schlechtes Gewissen hat sie nur, weil er sich schon wieder allein um Julius kümmern muss.
Als sie August vom Zugfenster aus erblickt, fällt ihr zuerst auf, wie grau er wirkt, grau und längst nicht so jung, wie sie ihn in Erinnerung hat. Seine Angewohnheit, die Zigarettenkippe mit dem Finger durch die Luft zu schnipsen, findet sie nicht mehr charmant, und auch sonst entdeckt sie an ihm nichts, was sie zum Aussteigen bewegen könnte; sie will ihn nicht umarmen, keine seiner Fragen beantworten. Sie versteckt sich in einem leeren Abteil und hält sich die Ohren zu, als er laut ihren Namen ruft.
Auf der Rückfahrt steht sie über die Zugtoilette gebeugt und würgt in den Abgrund unter ihr. Später auf dem Gang hört sie aus den Abteilen Satzfetzen und Lachen, dann einen Schrei, der in ihrem Schädel nachhallt, und sie weiß nicht mehr, ob sie wirklich hier ist oder sich in einem ihrer zahllosen Zugträume befindet: Immer fährt sie in die falsche Richtung, wird von ihrem Platz vertrieben oder versäumt es, rechtzeitig auszusteigen.
Nach der Reise verlässt sie kaum noch das Bett. Sie schläft lange, steht gar nicht erst auf und vertieft sich in Groschenhefte. Die Geschichten darin erinnern sie an die Schreibversuche ihres Vaters. Sie kann sich auf keine anderen Bücher mehr einlassen, nur noch auf diesen Schund, den sie gierig in sich aufsaugt, den verlogenen Schund vom Glück und einfachen Leben. Das Schlafzimmer bleibt ungelüftet, sie isst kaum, höchstens den rötlichen Lachsersatz. Hans hat sich von seinem ersten Krankengeld ein Radio mit einer grellgrünen Skala gekauft, stundenlang sitzt er davor und versucht, neue Sender einzustellen. April hat das Gefühl, mit Hans in einer Schattengemeinschaft zu leben, sie kennen hier niemanden außer sich selbst. Ob sie deshalb noch zusammen sind?
Unter dem Bett von Julius entdeckt sie ein richtiges Warenlager: sorgfältig aufgereihte Süßigkeiten, Buntstifte, Tiersticker. Ihr ist sofort klar, dass er die Sachen gestohlen hat. Sie muss ihn gar nicht fragen, dafür erinnert sie das Versteck zu sehr an ihr eigenes, nur hatte ihr Diebesgut damals nicht in so vielen Farben gefunkelt. Obwohl sie sich leicht in Julius hineinversetzen kann, stellt sie ihn mit einem bitteren Unterton zur Rede. Sie will keine Ausflüchte hören, nur die Wahrheit. Sie betrachtet Julius mit dem kalten Blick ihrer Mutter. Sie erkennt sein Entsetzen, seine Ungläubigkeit, während sie ihn mit harschen Worten niedermacht. Die Verletzungen, die sie ihm so beiläufig, fast unbeabsichtigt zufügt, werden wie eigenständige Organe in ihm wachsen. Niemand weiß das besser als April, sie kennt das Gefühl der Demütigung, des Verrats nur allzu gut.
Hans kann den Vertrauensarzt nicht dazu bringen, ihn weiter krankzuschreiben. Als ungeübter Lügner hält er seine Lügen so klein wie möglich, während sie nur ihre dünnen Handgelenke vorzuweisen braucht, ihre Magerkeit, sie könnte glatt zum Flug ansetzen mit ihren Schulterflügeln.
Hans hat sich seit ihrer Ausreise verändert, er gibt nicht mehr vor, als Einziger den Durchblick zu haben.
Sie warten hier nicht auf einen, sagt Hans, als er von seiner Arbeitssuche zurückkommt. Er hat sich in der Oper vorgestellt, in einem kleinen Theater, ist einfach so hingegangen, ohne einen Termin.
Du hast wahrscheinlich nur mit dem Pförtner gesprochen, sagt April und kann ihre Überraschung nicht verbergen. Was ist los mit dir?
Hans mustert sie, als hätte er sie noch nie gesehen, und sie muss an ihren Vater denken, an seinen Satz: Ein Mensch ist ein Mensch. Diesen Satz sagte er, wenn er am Ende war.
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