Angelika Klüssendorf - April

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«Klüssendorfs Mädchen ist eine Heldin unserer Zeit» (Die Zeit) — und nun wird es erwachsen.
Die Kindheit ist vorüber, aber erlöst ist das Mädchen deshalb noch lange nicht. Nach ihrem hochgelobten Roman» Das Mädchen «schreibt Angelika Klüssendorf die Geschichte ihrer jungen Heldin fort. Ihr Weg führt aus einer Jugend ohne Jugend in ein eigenes Leben — das den Umständen abgetrotzt werden muss.
Am Anfang stehen ein Koffer mit ihren spärlichen Habseligkeiten und ein Zimmer zur Untermiete. Das Mädchen, das sich mittlerweile April nennt — nach dem Song von Deep Purple —  hat die Zeit im Heim hinter sich, die Ausbildung abgebrochen und eine Arbeit als Bürohilfskraft zugewiesen bekommen. Zwischen alten Freunden und neuen Bekannten versucht sie sich im Leipzig der späten 70er-Jahre zurechtzufinden, stößt dabei oft an ihre eigenen Grenzen und überschreitet lustvoll alle, die ihr gesetzt werden, am Ende mit ihrer Ausreise auch die zwischen den beiden Deutschlands. Aber jedem Ausbruch folgt ein Rückfall, jedem Glücksmoment eine Zerstörung, jedem Rausch die Ernüchterung. Und immer ist da die Frage nach den Kindheitsmustern, der Prägung durch die verantwortungslose Mutter und den alkoholkranken Vater.
Angelika Klüssendorf ist ein weiteres Meisterwerk gelungen. Ohne Pathos, nüchtern und souverän erzählt sie von einem Weg aus der scheinbar ausweglosen Vergangenheit — mit psychologischem Feingefühl und klarem Blick für die gesellschaftlichen Zustände. Es entsteht ein Doppeltes: ein erschütternder Adoleszenzroman und ein nüchternes Porträt der sozialen Zustände im untergegangenen real existierenden Sozialismus — und im West-Berlin der frühen 80er-Jahre.

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Sie möchte, dass Hans sie nicht mehr liebt, dann fiele ihr eine Trennung leichter. Sie lässt sich gehen, sitzt abends schmuddelig und schmatzend am Tisch, doch er scheint weder sein Lieblingsessen zu vermissen noch ihr verwahrlostes Aussehen zu bemerken. Ihre Bewegungen sind träge, sie gibt nur ein störrisches Grunzen von sich, wenn er sie etwas fragt. Sie kümmert sich nicht mehr um den Haushalt, lamentiert ohne Unterlass, mit immer schriller werdender Stimme: Kotzübel sei ihr, ihre Seele überschwemmt von Scheiße, und überhaupt komme sie sich vor wie tot, wie nie geboren, ein alter Strumpf. Hans denkt aber gar nicht daran, sich zu entlieben, stattdessen plant er eine gemeinsame Reise an den Gardasee.

Im Wörterbuch steht unter Liebe: Anziehungskraft, Magnetismus, vor Sehnsucht vergehen, herzbetörend, sein Wohl oder Wehe erwarten, Wonnemond. Die Gegenwörter sind: Abneigung, Ekel, Gleichgültigkeit, Hass.

April meint sich zu erinnern, dass es in Polen einen Fluss gibt, der Liebe heißt. Es gibt keinen Plural für die Liebe.

Liebst du mich noch, fragt sie Hans.

Ja, sagt er.

Aber warum?

Warum? Hans klingt überrascht.

Ja, warum.

Ist eben so, sagt er.

Was bedeutet es, fragt sie sich, dass er sie liebt, obwohl sie ihn nicht mehr liebt. Und warum fragt er sie nicht. Ist es ihm egal?

Manchmal möchte sie ihn schütteln, ihm sagen, dass er es ohne sie viel besser hätte.

April schafft es nicht, die Reise zum Gardasee abzublasen, redet sich ein, sie und Hans seien ohnehin nur noch Freunde, redet sich ein, sie wolle Julius nicht enttäuschen.

Aber schon die Hinfahrt ist ein Desaster. Hans rast mit dem klapprigen Datsun, seinem ersten eigenen Auto, über die regennasse Autobahn, als wolle er ein Rennen gewinnen, und im gleichen Tempo kanzelt er sie ab. Warum sie so uninteressiert sei. April beteuert das Gegenteil, Hans wirft ihr Heuchelei vor. Sie wundert sich über seine Wut, sie selbst bleibt erstaunlich gelassen, sie hat keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Auf einmal begreift sie, dass seine bisherige Ruhe sich nicht zuletzt von ihrer Unbeherrschtheit genährt hat.

Während der gesamten Reise bleibt April in ihr Buch vertieft, auch wenn sie zu dritt durch die Straßen gehen, an allen Sehenswürdigkeiten vorbei. Sie blickt weder nach links noch nach rechts, als wollte sie ihre Umgebung ausblenden. Trotzdem registriert sie, wie Hans Julius zu einem Bettler schickt und ihn fotografiert, als er dem zerlumpten Mann ein Geldstück überreicht. Sogar abends beim Essen liest sie, die Gabel in der einen Hand, in der anderen das Buch, es ist wie ein Zwang. Der Roman heißt:»Irre«. April wäre hier gern allein, und sie würde gern mutig aussprechen, was ihr durch den Kopf geht, und dann sagt sie es: Ich werde mich von dir trennen. Hans überhört den Satz, erst als sie ihn wiederholt, horcht er auf. Sie sitzen in einem Restaurant, große Teller mit Nudeln vor sich, aus dem Hintergrund klingt italienische Schlagermusik, Hans sieht seinen Sohn an und sagt: Wenn deine Mutter mir das antut, werde ich mich umbringen.

Sie brechen die Reise ab und fahren nach Hause. Julius betrachtet sie entsetzt, und sie kann es ihm nicht verdenken. Sie fühlt sich schuldig und trotzdem erleichtert. Sie hat das vage Gefühl, Verantwortung für sich zu übernehmen, auch wenn das zulasten von Hans geht. Er, der früher stolz bekannte, niemals zu weinen, schließt sich tagelang in seinem Zimmer ein, sein Wehklagen dringt durch die Wände, irgendwann ist nur noch ein Wimmern zu hören. Julius starrt verstört vor sich hin, sie kann ihn nicht trösten, er will zu seinem Vater, doch die Tür bleibt verschlossen. April weiß nicht weiter, am liebsten würde sie sich auflösen, die Schwere ist noch schwerer zurückgekehrt.

16

Hans wollte zunächst in eine andere Stadt ziehen, aber er ist geblieben. Seine neue Wohnung liegt nur eine Straße von ihnen entfernt. Wenn sie sich zufällig begegnen, kann April seinen schleppenden Gang, seine traurigen Augen kaum ertragen.

Julius schleudert seine Stifte an die Wand, er will nicht malen, er will nichts essen, er will zu seinem Vater. April hat das Gefühl, in seinen Augen ist sie die große Kaputtmacherin, die ihn von seinem Vater trennt. Dabei kann Julius jederzeit zu ihm gehen, doch er hält an seinem wütenden Trotz fest. Sie sagt nicht wie ihre Mutter früher: Hau doch ab. Aber sie würde es gern sagen, hau ab, verschwinde. Stattdessen umarmt sie ihn, drückt Julius fest an sich — er liegt wie eine Gliederpuppe in ihren Armen.

Sie sucht einen Psychologen, einen, der sie nicht nur krankschreibt, sondern ernst nimmt. Doch schon der erste Versuch lässt sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Eine große, mächtige Frau sitzt ihr hinter einem gläsernen Schreibtisch gegenüber und mustert sie so eindringlich, als wollte sie ihr ganzes beachtliches Körpergewicht in diesen Blick legen, während April in dem weichen Sofa versinkt, unfähig, eine einzige Frage zu beantworten.

Sie haben viel erlebt, fragt die Psychologin.

April zuckt die Achseln und denkt, was ist viel und was ist wenig.

Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?

Woher soll sie das wissen? April kommt sich vor wie ein Fisch, der durch das Zimmer schwimmt. Nein, kein Fisch — sie ist ein Kätzchen.

Sie sind ein Kätzchen vom Schuttabladeplatz. Ja, das sind Sie. Die Frau lehnt sich zurück. Ein frierendes, verschrecktes Kätzchen, misstrauisch Fremden gegenüber und jeder ausgestreckten Hand. Sie lassen sich nicht so einfach füttern, Sie beißen eher, und wehe dem, der sich Ihnen zärtlich nähert, dann wird aus dem Kätzchen eine fauchende Wildkatze.

April versucht sich so zu sehen wie von der Psychologin beschrieben, doch sie versinkt nur noch tiefer in das Sofa, es ist ihr peinlich, sich das anhören zu müssen.

Was ist das für ein Gefühl, so ein Kätzchen zu sein, fragt die Frau.

April wendet sich dem Fenster zu, starrt auf den Umriss einer Grünpflanze, bringt es einfach nicht fertig, etwas zu sagen.

Der Name des nächsten Psychologen lautet Dr. Fuß, er läuft um April herum, umkreist sie geradezu, was ihr theatralisch vorkommt. Sie sitzt mitten im Zimmer auf einem Stuhl, er hält ihr wie ein Zauberkünstler plötzlich einen Spiegel vor das Gesicht und sagt: Was sehen Sie? April starrt gebannt auf seine Gesundheitsschuhe, aus denen weiße Knöchel hervorquellen. Sie fragt sich, wie seine Füße wohl aussehen und ob sein Name etwas damit zu tun hat, dass sie sich das fragt.

Der dritte Psychologe sitzt eine ganze Weile schweigend vor ihr. Dann sagt er: Warum sind Sie hier?

Es fällt ihr schwer, diese Frage auf Anhieb zu beantworten. Warum ist sie hier? Ich weiß nicht, was ich fühle, sagt sie, ob ich mich gut fühle oder schlecht, es lässt sich nicht mehr unterscheiden.

Seit wann ist das so? Der Psychologe sieht müde aus.

Sie zuckt die Achseln, bemüht sich, ihm zu erklären, dass es ihr vor allem nach Momenten des Glücks passiert.

Und das Glück, fragt er. Wie fühlte sich das an?

Sie überlegt, ihr fällt rein gar nichts ein. April möchte den Psychologen gern beeindrucken und versucht, sich an die Freudlektüre in der Deutschen Bücherei zu erinnern. Der Arzt schlägt ihr eine Analyse vor, was sie erst einmal ablehnt.

Am frühen Abend sind es immer noch vierunddreißig Grad im Schatten. Die Hitze ist wie ein Summen auf ihrem Körper. Sie geht in die Markthalle; hier fühlt sie sich geborgen, und die Luft ist erträglich. Sie setzt sich auf eine Bank und beobachtet Artur. Er scheint beim Friseur gewesen zu sein, sein grauschwarzes Haar liegt ihm brav gescheitelt am Kopf an. Sonnenlicht bricht durch eins der großen Fenster, sammelt sich um seine Mundwinkel zu einem Bart aus Licht. Er ist auf dem Sprung, leicht zitternd setzt er sich in Bewegung, versucht einen großen Schritt, springt über unsichtbare Hindernisse. Sie möchte über ihn schreiben und fragt sich, wie er als Kind gewesen sein mag. Es fällt ihr schwer, ihn als Mann einer Frau zu sehen, eher ist er wie ein Bruder von jemandem.

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