Hier, sagte es aus dem dunklen Ende der Enge heraus.
Oda? Bist du das?
Ja. Komm her.
Ihre Stimme hatte einen Widerhall. Kindheitspfade. Oder ein Alptraum. Eine immer enger und dunkler werdende Gasse. Als er mit ihr zusammenstieß, schrie er vor Schrecken auf.
Hast du mich nicht gesehen? Ich habe dich gesehen.
Tut mir leid. Was gibt es hier?
Nichts, nur die Straße. Lass uns was trinken gehen.
Sie gingen wieder dorthin, wo es hell und laut war und Getränke verkauft wurden, und offenbar, ich weiß zwar nicht, wie es genau geschah, trank Darius Kopp zu schnell und zu viel, denn nach einer Weile antwortete sie jedes Mal, wenn er zuvor versucht hatte, etwas zu sagen:
Was sagst du? Ich verstehe nicht.
Dazu kam auch noch, dass er, was er auch immer tat, ihr nicht ins Gesicht schauen konnte, stattdessen starrte er ununterbrochen auf den vor Schweiß blinkenden Bereich auf ihrem Brustbein. Sie ist flachbrüstig. Egal. Aber wieso versteht sie mich nicht? Spreche ich deutsch, ohne es zu merken? Ich habe auch vergessen, wo wir heute wohnen. Ist es uns heute überhaupt schon gelungen, ein Hotel zu finden? Er konzentrierte sich und brachte schließlich doch noch auf Englisch hervor:
Findest du zum Hotel zurück?
Klar, sagte sie leicht, führte ihn zurück, fragte für ihn nach seinem Zimmerschlüssel, brachte ihn bis zu seiner Tür.
I am sorry, sagte Darius Kopp.
Dafür sind Freunde schließlich da, sagte sie vollendet.
Was ihn wiederum so befremdete, dass er beinahe nüchtern davon wurde. Als sie ihn auf die Wangen küsste, merkte er wiederum, wie er im Vergleich mit ihr roch (nach Alkohol und noch etwas anderem, einem unbekannten Metall) und sah es als am besten an, wenn er sich so schnell wie möglich zurückzog. Sleep well. Morgen sind wir in Tirana.
Am nächsten Morgen waren Benommenheit und Hitze nur unwesentlich geringer geworden. Kopp hatte Schwierigkeiten, Odas Anweisungen zu folgen, die dort weitermachte, wo sie aufgehört hatte, redete und redete. Und ich, als würde ich innerlich verdampfen. Den Moment: jetzt! sind wir also in Albanien konnte er nur mehr peripher registrieren, während Oda neben ihm auf dem Beifahrersitz auf und ab hüpfte. Die Einfahrt nach Tirana bewältigte Darius Kopp bereits im Halbschlaf. Die fallbereiten Vorhänge meiner Lider. Oda bemerkte nichts davon, ihre Hände flogen, die Zeigefinger, was ist was, schau mal, Skanderbeg, Uhrenturm, Moschee, Museum, Taiwan (?), Lana (?), Blokku (?), Kopp fuhr sein lächelndes Gesicht (weil mir momentan kein anderes möglich ist, ich kann mein Gesicht nicht bewegen), versuchte, was ihm möglich war, links, rechts, einordnen, abbiegen. Zumindest Letzteres klappte einigermaßen, das ist tief verinnerlicht, Auto fahren kann ich quasi noch im Schlaf, und das ist diesmal kaum im übertragenen Sinne gemeint.
Erst, als das Auto stand, merkte Darius Kopp, wie sehr es ihn schwindelte. Sehr. Wenn es dich selbst dann schwindelt, wenn du den Kopf nicht bewegst, dann: sehr. Taumelnd aussteigen, eine Straße, ein Gebäude, ein Treppenhaus, Treppen, Treppen, wie in einem nicht enden wollenden Traum, Türen, Türen, eine Tür, eine Frau, das ist meine Großmutter, sie sieht nicht wie eine Großmutter aus, das heißt, nicht wie meine, natürlich nicht, diese hier ist 20 Jahre jünger, schick und vielleicht auch freundlich, aber Kopp konnte da nichts mehr festhalten, das Gesicht dieser Frau, wie werde ich sie wiedererkennen, ich werde doch nicht am Abendessenstisch einschlafen? Haben sie mir was ins Essen getan? Grüner Salat, Tomaten, streng riechender, salziger Schafskäse, Oda aß mit lauten Mmmmm!-s. Kopp lauschte hinterher, aus wie vielen M-s das bestand, wie viele er schon gehört hatte und wie viele er noch hören würde, er sah sie wie Kettenglieder vor sich. Dann war er weg.
Er lag eine Woche lang im Delirium. Fieber und Schmerzen tobten, Darius Kopp wälzte sich im Bett, durchschwitzte fünf Hemden am Tag. Man hob ihn, zog ihm etwas Trockenes an, legte ihn wieder hin, wusch ihn mit einem Lappen, hielt seinen Penis in eine Ente. Wenn sie ihn berührten, kam er wenigstens soweit zu sich, dass er etwas mitmachen konnte. Das war jedes Mal eine Erleichterung, denn in diesen Momenten konnte er sehen, dass er nicht in der Wohnung seiner Mutter war. In seinen Fieberträumen sah er sich dort, nicht in der Wohnung, in der er aufgewachsen war, sondern in der neuen, behindertengerechten, für Leute mit nur einem Fuß. Sie selbst sah er nicht, aber er lag in ihrem Bett, in ihrer Bettwäsche, blassrosa Bettwäsche, benutzt, sein Schweiß vermischte sich mit ihrem, obwohl das nicht sein kann, sie hätte mich niemals in ihr benutztes Bett gelegt, aber vielleicht hätte ich mich selbst in ihr benutztes Bett gelegt, während sie in einem sauberen Krankenhausbett gelegen wäre. Dass seine Mutter im Krankenhaus und er krank in der Wohnung seiner Mutter war, träumte er. Verzweifelt wälzte er sich. Ich will nicht krank in der Wohnung meiner Mutter sein!
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[Datei: Bernhard]
Bernhard
«Menschen mit der Einfachheit und der Niedertracht, mit der Armut ihrer Bedürfnisse.«
«Das Volk verurteilt zu Infamie und Geistesschwäche.«»Wir haben nichts zu berichten, als dass wir erbärmlich sind, durch Einbildungskraft einer philosophisch-ökonomisch-mechanischen Monotonie verfallen.«
«Mittel zum Zwecke des Niedergangs, Geschöpfe der Agonie, erklärt sich uns alles und verstehen wir nichts.«
(Ja, ja, die anderen. Ich fordere nichts — das ist unwahr. Wahr ist: ich tue so, als forderte ich nichts, aber in Wahrheit fordere ich das Maximale: dass sie anspruchsvoll sind. Und anspruchsvoll sich selbst gegenüber zu sein, heißt: mitfühlend und gebend anderen gegenüber. Das hättest du wohl gern. - Halt die Klappe! Und im Übrigen: Ja, das hätte ich gern. - Oh, du Heilige…! - Halt die Klappe! Halt die Klappe! Halt-die-Klap-pe!!!)
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[Datei: haszon]
Der Nutzen der Deprimierten.
Menschengruppen sind keine Affenkohorten, dennoch:
In jeder Gruppe muss es dominierende und deprimierte Elemente
geben, damit die Gruppe funktionieren kann.
Wo jeder dominieren will, kämpfen wir, bis alle tot sind.
Wo jeder deprimiert, also passiv ist, sterben wir ebenfalls. Versuchen, alles niederzuringen, und sind am Ende tot. Versuchen, nichts niederzuringen, und sind am Ende tot. Das ist die Funktion meines Erduldens. Nicht nur die eigene, sondern auch die Funktionsfähigkeit der Gruppe aufrechtzuerhalten. Ich ziehe für mich vor, Leid zu ertragen, bevor ich Leid verursache. Das korrespondiert, auf der ethischen Ebene, mit meinem Idealbild eines Menschen. Im Grunde ist das ein Dienst an der Liebe. Es ist Liebe in mir. Das IST ein Trost.
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[Datei: légy_fegyelmezett]
Sei diszipliniert. Du hast niemanden, nein. Winsle darüber nicht weiter. Du bist die Frau, der die Welt gehört. Ich bin die Frau, der die Welt gehört. Gott und ich und Arbeit.
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[Datei: visszatérö]
Das Spiel heißt:»Der Wiederkehrer«. Man spielt es so: nimm die Welt und betrachte sie, als wärst du gestern gestorben, aber heute noch einmal da, für einen einzigen Tag. Spiele das so lange, bis es noch wirkt, danach suche dir ein anderes Spiel.
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[Datei: napsugaras_fák]
Zwischen jungen, sonnenhellen Bäumen stehen. Sie neigen sich im Wind. Ihr seid schön, ihr seid schön.
Sie selbst oder seine Schwester Marlene tauchten kein einziges Mal auf, die unsichtbaren Hände, die ihn hoben und legten, waren nicht ihre, immerhin soviel Erleichterung. Frau Monkowski. Das ist die Nachbarin meiner Mutter. Dass die Nachbarin seiner Mutter, Frau Monkowski, beinahe achtzigjährig, die Gleiche sei wie Odas Großmutter, die kaum sechzig war, dass Frau Monkowski Odas Großmutter war und dass Tirana in Wahrheit Maidkastell war, delirierte Darius Kopp, und das erfüllte ihn im schnellen Wechsel mit Freude (Wir kommen in Wahrheit aus demselben Ort, unsere Begegnung ist also» real«!) und absolutem Horror (Wir kommen in Wahrheit aus demselben Ort, also ist Oda nicht real, sondern in Wahrheit jemand anderes, meine Schwester, meine Nichte, die Pflegerin meiner Mutter, die Pflegerin unserer ganzen Familie. Flora, hilf). Manchmal bekam er auch Spritzen, aber nicht immer dann, wenn er vor Schmerzen winselte, offenbar folgten sie einer anderen Routine. Die Schmerzen — Wie noch nie in meinem Leben! — saßen hauptsächlich im Kopf, dort wiederum hauptsächlich in Augen, Ohren, Kiefer, als wäre mein Kiefer verkrampft, die Zähne zu fest aufeinandergebissen, ich weiß nicht, wie man sie losbekommt, wird mein Kopf von nun an für immer versperrt sein, werden meine Kiefergelenke verknöchern, werde ich so steif und so flach wie ein Brett werden? So, eine Woche lang.
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