Was willst du eigentlich von mir, ich habe doch nur getan, was ich musste, am Leben bleiben, arbeiten, etwas darstellen, für dich, für deinen Bruder. Aber ich war unerbittlich. Ich wäre gerne verständnisvoller, aber ich bin es nicht. Keine Armut der Welt kann so groß sein wie die Armut dessen, der sein Kind verlässt. Ich verurteile sie. Ich stamme ab von welchen, die ich verurteile. Am Ende setzte mich meine Mutter wieder auf ein Schiff. Geh doch zurück, wenn du denkst, da hast du es besser. Ich stand an der Reling und wollte mich ins Meer werfen. Aber dann dachte ich an Großmutter und an Albanien und weinte nur. Ich werde demnächst nach Italien reisen müssen. Ich darf das nicht zu lange aufschieben. Das Leben des Flüchtlings kann nichts anderes als demütigend sein. Das liegt in der Natur der Sache. Ich muss hin, um ihnen als Nichtflüchtling zu begegnen und zu verzeihen.
Danke, sagte Darius Kopp, als der Morgen aufdämmerte und die erste Fähre vom Festland kam. Nothing, sagte Oda.
Die Fähre brachte Lebensmittel und Gastronomiearbeiter. Einen Wassermonteur mit Eigenwerbung auf seinem Kastenwagen. Are you cold?
Ihr irgendwas um die Schulter legen. Das Minimum. Thank you, sagte Oda und lächelte.
Die Melancholia.
Auf den Sündenfall folgt die Melancholie und ist selbst auch wieder eine Sünde.
Akedia = die Todsünde der Trägheit
Die schaut mir zu lange auf einen Punkt! (Oma)
Grübeln bringt nichts.
Aber (!): erst nachdenken, dann handeln.
Werde einer schlau.
Ich sag dir schon, was du denken sollst — eine mögliche Lösung. Nur sind nicht alle dafür geeignet. Ich versuche, nicht die zu verachten, die geeignet sind. Melancholieverbot und Überhöhung der Melancholie, beide Stränge sind im Abendland gleich stark. (Über andere Erdkreise weiß ich nichts. Schande oder nicht, so ist es.) Generalverdacht gegen Traurige vs die Annahme, wer traurig aussieht: denkt, und wer denkt, ist kreativ. (Nein.)
Die Mutter ist nicht zwangsläufig die beste Gesellschaft für ihr Kind.
Man ist nicht zwangsläufig der beste Ideengeber für sich selbst.
Es gibt Sünden, die sind es nur, wenn man sie BEGEHT.
Aber auch ein Zustand kann eine Tat sein.
Die Tat und die Untat.
Untätig sein = eine Untat zu begehen?
Sei tätig, dann kann dich der Dämon, der die Melancholie bringt, nicht einholen? Wer stehen bleibt, wer sich der Versenkung übergibt, fällt sofort in die Geiselhaft der Melancholie? Ohne Kontemplation keine Melancholie?
Glaube ich nicht. Der Nicht-Denkende kann auch depressiv sein, er kann nur nicht darüber reflektieren. Wer nicht reflektiert, wird apathisch oder aggressiv.
Entweder reflexiv oder apathisch oder aggressiv. Alles hat seinen Preis.
Aber einen ganzen Tag fegen, das bringt wirklich etwas. Den Tag überstehen. Morgen ist ein neuer. Ruhe dich nicht aus. Es ist nicht Ruhe, die dir fehlt. Sei tätig. Ununterbrochen. Sei nur soweit» gut «zu dir, wie es nötig ist, dich funktionstüchtig zu halten. Um nichts anderes geht es. Betrachte dich selbst als ein Instrument. Das ist das Sinnvollste, was einer mit sich anfangen kann.
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[Datei: a_kétségbeesésröl]
«Arbeit ist das beste Mittel gegen Verzweiflung.«»Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter.«(Sollte das also meine Identität sein? Was bzw. dass ich etwas aus meinen Trümmern aufbaue. Als ob man nur Positives bauen könnte. Man kann auch Hässliches und Nutzloses bauen. Der Satz stimmt also, hilft aber nicht.)
«Die Masse der Menschen lebt in stummer Verzweiflung.«(Lieber Gott, hilf!)
«Die Verzweiflung schickt Gott uns nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um ein Leben in uns zu wecken.«(Fuck you.)»Denn wo der Mensch verzweifelt, gibt es keinen Gott.«(Wozu dann einer?)
«Ein Mensch, der mit einer einfachen Illusion zu leben weiß, ist unendlich schlauer als einer, der an der Wirklichkeit verzweifelt.«(Ich behaupte auch nicht, dass ich nicht unendlich dumm wäre.)»Geduld ist eine milde Form der Verzweiflung, verkleidet als Tugend.«(Ich darf also fortfahren damit?)
«Heitere Resignation — es gibt nichts Schöneres.«(Marie von EbnerEschenbach ist eine selten dumme Plantschkuh. Oder, wie ich es face to face in meiner milden Geduld sagen würde: Ich beneide Sie.)»Verzweiflung ist die Schlußfolgerung der Narren.«(Merci. Merci a vous.)
Tätig sein. Tätigkeit vs Tat.
Die Tat ist mir nicht möglich. Also Tätigkeit. Mehr als nichts. Jeder ist ein Held, der nicht aufgibt. Jeder ist ein Held, der sich selbst ernähren kann.
Wir geben nicht auf, wir machen weiter.
Tapfer sein, durchhalten. Ich werde x, y und z sein, wie ein Pfadfinder. Wie isst man alleine einen Elefanten auf? Stück für Stück. Stück für Stück.
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[Datei: Heller]
Agnes Heller in ihrem philosophischen Werk über den Alltag, in etwa:
1. 90 % aller Menschen sind zu nichts anderem da, als die Variabilität des Genpools zu sichern.
2. Das Leben von 90 % aller Menschen besteht aus nichts anderem als Alltag.
3. Der Rest ist in der Lage, ein geistiges Leben auf hohem Niveau zu leben, aber (wichtig!): dieses hohe Niveau nährt sich auch aus nichts anderem als dem (niedrigen) Alltag.
So be happy and celebrate!
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[Datei: máj_11]
11. Mai
Aus heiterem Himmel der Anruf, ob ich am Abend mit N. zusammen lesen könnte. Meine Übersetzung und eine von V. Davor bei 30 Grad Hitze zur Akademie, Gespräch mit H. über sein Drehbuch. Er kam gerade von einem sehr netten, aber niederschmetternden Gespräch mit seinem Direktor. Der Direx vermisse gerade das an seinem Buch, was er immer für seine Stärke hielt: unverwechselbare, existentiell relevante, psychologisch komplexe Beziehungen zwischen den Figuren. Ich könnte jetzt natürlich Schuld zuweisen, sagte H., und ich hätte noch nicht einmal unrecht. Ich konnte unverwechselbare, authentische, psychologisch komplizierte Figuren schreiben, als ich dieses Studium anfing. Jetzt, bei meinem Abschlussprojekt, kann ich es nicht mehr. Meine Figuren sind zusammengefallen in ihre Funktion, sie sind ziellos durchs All treibende weiße Zwerge. Kurz und gut, die Übersetzung, die ich davon für die Produzentensuche gemacht habe, ist somit hinfällig. Kein Problem, Geld gab es dafür sowieso nicht.
Von der Akademie blitzschnell nach Hause, Füße und Achseln gewaschen und mit derselben Fahrkarte zurück in die Stadt. Auf der Terrasse L getroffen. Ein hübsches Mädchen, mit dem ich gerne gehen würde, aber alles in allem verursacht sie mir immer wieder unangenehme Gefühle, weil sie mich an die Mädchen aus der Schule erinnert, und ich weiß, dass wir uns niemals näher als auf zwei Schritte kommen können.
Ich war zu hungrig, bestellte eine Gulaschsuppe. Als sie, kochend heiß, ankam, war keine Zeit mehr, sie zu essen. Die Lesung: ein Erfolg. Mehrfach gelobt. Vor 3 Tagen im Übersetzerkreis noch das Gefühl, jeder in der Runde denkt, alles, was ich mache, sei Murks. Mein Standpunkt: Besonderheiten der Quellsprache, und selbst wenn sie in der Zielsprache fremd klingen, beibehalten, denn so nur ist der Horizont des Lesers zu erweitern und die Treue zum Originaltext zu halten. Ja, ja, meinte man, bei G. wisse man auch nie, ob sie's nun falsch gemacht oder den Fehler im Text gewollt hat.»Haltet ihr mich für eine schlechte Übersetzerin?«-»Nein, wieso?«Nach der Lesung die Gratulationen. D verspricht, noch mehr zum Übersetzen zu besorgen. Anna, eine sehr schöne, alte Frau, ehemals Anlaufstelle für ungarische Emigranten. Ich habe noch nie etwas von ihr gehört. Dann die andere Anna, etwas betrunken (glaube ich), die mich umarmte und sagte:»Wie gut, dass du's jetzt geschafft hast. «Wieso, was ist passiert?
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