Tom wollte etwas entgegnen, ohne noch zu wissen, was es im Einzelnen sein könnte, aber da war sie schon nah an ihn herangetreten, hatte die Hände in seinem Nacken übereinandergelegt, um ihn zu küssen, was er nicht vorausgesehen hatte, weil es ganz unbemerkt aus der Zukunft ihm entgegengekommen und plötzlich da gewesen war, dieses Küssen an der Tür, das so noch nie stattgefunden hatte. Ihr Mund, den er viel zu lang entbehrt hatte, schmeckte weich, ihre Zunge schlang sich um seine, ihr Parfum drängte ihm entgegen, ihre Brüste, und hart spürte er ihren Hüftknochen. Draußen Hundegebell, das sich näherte, dreifach, und hüpfende Schritte auf der Terrassentreppe. Unwillig ließen sie einander los, lösten zunächst die Münder, dann erst glitten die Hände am jeweils geliebten Körper hinab, und zögernd streiften sie noch über Hals und Wangen, über den Arm des andern, bevor sie in die Hosentasche versenkt oder auf dem Rücken fest übereinandergelegt wurden. Zum ersten Mal waren sie Komplizen.
Als es klingelte und die Tür geöffnet wurde und Betty Morgenthal eintrat, um Leinen und Hunde abzuliefern, war ihnen nichts anzumerken. Zu dritt standen sie in der Eingangshalle, froh über die Tiere, die eine gewisse Unverfänglichkeit herstellten, weil verlegene Blicke bei ihnen gut aufgehoben waren. Einer entwischte jedoch und sprang wie ein Tischtennisball zwischen Klavierschülerin und Klavierlehrer hin und zurück, bevor er endlich wieder auf Raffi hinabfiel, der einen Stofffetzen im Maul trug, worüber man sich kurz unterhielt. Im Gestrüpp habe er ihn langwierig ausgegraben und gebe ihn nicht mehr her, erklärte Betty. Ein schmieriges, braunes Stück Stoff, das Anne Hermanns erst nach eingehender Analyse als den Kaschmirschal identifizieren konnte, den sie ihrem Mann einst zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie lachte seufzend. Dann wurde es still. Man hätte die Stille in Scheiben schneiden und auf ein Brot legen können, bevor fast gleichzeitig, nur leicht versetzt, Betty Morgenthal und Anne Hermanns» tja, also dann« sagten. Etwas zu laut, etwas zu grell und nackt standen die Worte in der weiten leeren Akustik der Eingangshalle. Tom aber schwieg, zog mit seinem Blick eine Linie zwischen den beiden Frauen, die, wie ihm auffiel, genau gleich groß waren.
«Tja dann«, sagte Betty noch einmal, etwas leiser und tastete in ihrem Rücken nach der Türklinke.
«Sie müssen entschuldigen«, sagte Frau Hermanns. Sie sagte es langsam, wie zu einer Wand.»Ich sollte eigentlich schon seit fünf Minuten …«, sagte sie und zeigte mit einer halben Geste auf die schmale Armbanduhr an ihrem Handgelenk, doch ihr Gesicht hatte keinerlei Ausdruck.»Sie müssen wirklich entschuldigen«, wiederholte sie.
Kein Blick begleitete ihn, als er neben der Unbekannten langsam die Stufen hinabstieg.
Da sie, wie sich herausstellte, in dieselbe Richtung mussten und Bettys Bianchi-Rennrad einen Platten hatte, gingen sie ein Stück zusammen. Tom, während er äußerlich neben Betty Morgenthal herging, ging innerlich nochmals die Ereignisse der letzten Minuten durch. Er wusste nicht, weshalb, hatte aber das vage Gefühl, ihr den unerwarteten Abschiedskuss zu verdanken, was er sich selbst nicht erklären konnte. Er begann ein unverbindliches Gespräch, indem er sie fragte, wie sie dazu gekommen sei, die Hermannshunde auszuführen.
«Ich hab einen Aushang gesehen«, sagte sie. Ihre Hand ließ sie über die Stäbe eines dunkelgrünen Gartenzauns gleiten, was ein ratterndes Geräusch verursachte.
«Wo denn?«, sagte er.
«An meiner Hochschule, Hanns Eisler«, sagte sie.
«Dann bist du Sängerin?«, riet Tom, und Betty schien sich etwas zu wundern, bevor sie bejahte. Wie er darauf käme? Wie sie den Hund gerufen habe, erklärte er, ihr Sopran, und er selber habe den Zettel aufgehängt, sei auch an der Hanns Eisler, und kurz redeten sie über die Hochschule und den Zufall, dass sie sich dort noch gar nicht gesehen hatten, oder vielleicht doch, aber unbewusst.
Ihre Hand streifte über die Zäune und Hecken, die sie passierten. Der riesige Parka, der auf Höhe der Knie abstand, ließ nicht erahnen, ob sich darunter so etwas wie eine Figur eigentlich befand. Das Fahrrad lief zwischen ihnen.
«Ich studiere Klavier«, ergänzte Tom den kleinen Dialog, der vom Frühlingswind verweht zu werden drohte.
«Hab ich mir fast gedacht«, sagte Betty,»wenn du Klavierlehrer bist. «Sie lächelte ihn an, und eine Ader trat senkrecht auf ihrer Stirn hervor. Die Augen aber hielten sich an einer bestimmten Stelle in seinem Gesicht auf, als entdeckten sie da ein Zeichen oder als wäre seine Haut durchsichtig dort.
Wie sie dazu komme, hier draußen Hunde auszuführen, fragte er, etwas verunsichert aufgrund ihres Blicks.»Ist das nicht ein bisschen weit für dich, wenn du im Osten studierst?«
Sie wohne in Kreuzberg, außerdem sei sie sowieso manchmal hier an der Uni, wo sie sich ab und an ein paar Vorlesungen anhöre. Betty sah jetzt auf ihren Fahrradlenker hinab, der unter einem Sonnenstrahl aufblinkte, dann verlosch.
«Und was hörst du dir an?«
Betty atmete tief und geräuschvoll ein und wieder aus. Offensichtlich war dieses Gesprächsthema bei ihr nicht besonders beliebt, wodurch es Tom gleich noch viel interessanter erschien.
«Lass mich raten«, sagte er.»Du hörst dir Biochemie-Vorlesungen an. Du willst eigentlich … das Tierversuchslabor deines Vaters übernehmen, und du singst nur, weil du denkst, Hunde damit aus Büschen hervorlocken zu können.«
Jetzt lachte sie, obgleich sie es wohl eigentlich gar nicht vorgehabt hatte. Sie strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, die sofort wieder nach vorn kippte.»Gar nicht so falsch«, sagte sie. Aber ihr Gesichtsausdruck wechselte die Harmonie, Moll war das jetzt und sehr ernst.»Ich höre mir Medizinvorlesungen an, weil es meine Eltern so wollen, und weil ich mich nicht traue, darauf zu pfeifen.«
«Aha«, sagte er.
«Und das Dämlichste ist, dass sie es gar nicht wissen«, sagte sie.
«Sie wissen was nicht?«
«Dass ich immer noch Medizinvorlesungen höre. Sie denken, ich studiere Gesang und fertig. Und es bringt sie fast um.«
«Eltern sind etwas Grässliches«, sagte Tom bedächtig und sprach aus Erfahrung.
«Sie denken, in fünf Jahren lebe ich unter einer Brücke und ernähre mich von nichts und vegetiere noch …«, sie fuhr mit einer Hand durch die Luft, aus der die richtigen Worte herauszufangen waren,»… noch ein, zwei Jahre vor mich hin und sterbe dann an Schwindsucht.«
Sie schwieg. Das Zwitschern einer Amsel hing hoch über ihnen. Scharf und grell ausgeschnitten aus dem weichen Teppich der Hintergrundgeräusche dieser Allee.
«Warum sagst du ihnen dann nicht«, sagte Tom,»dass du zu den Vorlesungen gehst? Wenn du schon hingehst. Das ist doch irgendwie unlogisch.«
«Ich weiß«, sagte sie und lächelte. Ihr Mundwinkel und die angrenzende Haut konstruierten dabei ein Grübchen.»Ich bin ein eher unlogischer Mensch, glaube ich. «Sie nickte vor sich hin, als wäre ihr dieser Sachverhalt erst in diesem Moment als erstaunliche Erkenntnis aufgegangen.»Ich möchte nicht, dass sie es wissen, weil ich es selbst bescheuert finde. Ich will keine Medizinvorlesungen hören, ich will niemals Ärztin werden, ich will singen, das ist alles.«
«Dann hör auf mit den Vorlesungen.«
Betty zuckte mit den Schultern.»Wahrscheinlich«, sagte sie. Weil wieder ein Wind durch die Allee fegte, mit seinem großen Besen, und Papiertaschentücher und Staub und loses Laub in die Luft hob, grub sie aus ihrer Umhängetasche eine rote Strickmütze und setzte sie auf. Die Bommel rollte auf ihrem Kopf herum. Unten flossen die Haare heraus. Tom versuchte sich vorzustellen, wie Anne Hermanns mit so einer Mütze aussähe, aber es gelang ihm nicht.
«Das Blöde ist«, sprach Betty weiter und sah knapp an Toms Füßen vorbei,»dass sie mir ihr schlechtes Gewissen regelrecht eingeimpft haben. Sie konnten sich nie vorstellen, dass das Leben Spaß machen darf. Leben ist Pflichterfüllung, in erster Linie. Sie glauben, dass sie von irgendjemand hierhin gesetzt worden sind und dass sie gefälligst zu leiden haben. Und der Beruf ist nur dann ein Beruf, wenn er möglichst eine Qual ist. Je größer die Qual, desto besser, und je sicherer natürlich. Der Beruf muss eine sichere, unkündbare Qual garantieren, möglichst bis zum Rentenalter. «Sie schüttelte den Kopf, die Bommel taumelte, und plötzlich lächelte sie wie über ein faszinierendes, aber unlösbares Rätsel. Ihr Vater, sagte sie, sei mittlerer Finanzbeamter und insgeheim hasse er Zahlen. Er hasse es, jeden Morgen ins Amt zu gehen, er hasse dieselben beige lackierten Türen jeden Tag, den Kaffee, der lauwarm sei und nach Pisse schmecke, seinen Schreibtisch mit den Zahlen und Aktenordnern voller Zahlen, aber er würde niemals damit aufhören, weil der Beruf nun einmal Beruf sei und die Qual nicht groß genug sein könne. Betty hob ihre Hand ans Ohr, wie um sich zu kratzen, blieb plötzlich stehen. Sie blickte ihm ganz in die Augen und strahlte ein Lächeln, das sich vom Mund über das Gesicht ausbreitete und nicht zum Thema passte.»Tut mir leid«, sagte sie.»Ich wollte dich nicht so zumüllen.«
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