Ihren Lebensunterhalt allerdings verdienten die meisten von ihnen, indem sie bei Musicalproduktionen einsprangen, bis dieses Einspringen zur regelmäßigen Abendbeschäftigung wurde und sie im Bühnengraben des» Theaters des Westens «herumlungerten wie andere Leute in ihren Fernsehsesseln, nicht ohne das Empfinden einer gewissen Gemütlichkeit, verbunden mit Scham und dem nagenden Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, stattdessen lieber ein gutes Buch lesen zu sollen, beispielsweise. Und dieses gute Buch war die zeitgenössische Musik. Damit (es war die Partitur eines jungen vielversprechenden Komponisten) saß man stockaufrecht an diesem Freitagabend in einem der schallgedämpften Übungsräume der Hochschule in einem Stuhlkreis versammelt, darin Tom, neben ihm Ulrich, ein Jazzschlagzeuger, den er mitgebracht hatte, der die Knie zusammengedrückt hielt, als ginge es um die Einschulung. Gemeinsam blätterte man ehrfürchtig in den Noten. Der Urheber dieser Noten war ein bisschen aufgeregt, was Tom an seinen Wangen erkannte, die etwas gerötet waren, die Augen ständig in Bewegung.
Es sei, erklärte Marc, ein dreisätziges Stück, wobei diese Dreiteilung lediglich ein Zitat der klassischen Konzertform sei, es handle sich ja gar nicht um ein Klavierkonzert, wie sie sofort sehen würden, vielmehr seien alle Instrumente gleichberechtigt. Es komme ihm auf den Zusammenklang, überhaupt auf die Produktion des Klangs an, zumal im ersten Satz, der die Sprache der Dinge illustriere und die Möglichkeiten des Orchesters, des Klaviers und des Schlagzeugs in einer neuen Richtung ausloten wolle. Es müsse technisch klingen, die Streicher spielten über weite Strecken nicht auf den Saiten, sondern indem sie das Holz des Bogens und des Stegs benutzten, viele Pizzicato-Passagen, abgedämpfte Saiten. Die Blechbläser hielten sich ausschließlich an den oberen und unteren Grenzen ihres Tonumfangs auf, was neue Klangereignisse schaffe, er wolle das Material hörbar machen, auch bei Klavier und Schlagzeug, Holz, Metall, Blech. Der Rhythmus hingegen, der elektronischen Popmusik entlehnt, sei eine repetitive Figur, wobei man ausdrücklich auf den Einsatz von Computersamples verzichte, da man den Effekt der Entzeitlichung auch mit dem herkömmlichen Instrumentarium erzeugen zu können meine, durch die Schichtung gerader, treibender Pattern bei minimalen Verschiebungen, weitmögliche Reduktion.
Der zweite Satz dagegen stelle die Melodie in den Vordergrund, die schwingende Tonalität, Sprache der Natur, die dunkle Gewalt des Lebens. Dissonante Fragmente brächen sich hier wie Sturmwellen an clusterartigen Klanggründen, und man scheue nicht die tonale Melodieführung eines einzelnen Streichers, die wie ein romantisches Zitat daraus aufsteige, durch die fugenhafte Schichtung anderer Stimmen jedoch wieder hinabgezogen werde in das» Geschrattel«, wie Marc es nannte, des düsteren Klangs.
Der dritte Satz, eine leere Seite. Freie Improvisation, eingeleitet durch eine den zweiten Satz abschließende Klavierkadenz, angelehnt auch diese an die klassische Konzerttradition. Aber sie könnten auch nicht spielen, das werde man sehen. Man könne die Zeit auch einfach leer lassen, sagte Marc, je nachdem, wie lange es dauere, auf die Stille hören und das Scharren der Füße im Publikum.
Erstaunte Augenpaare im Stuhlkreis.
«Wie meinst du das: freie Improvisation?«, fragte die erste Geigerin und wackelte kurz mit dem Kopf, eine durchsichtige Person mit farblosem Pferdeschwanz.
«Aufeinander hören oder nicht und spielen«, sagte Marc,»oder auch nicht spielen. «Im Stuhlkreis erneutes Kopfwackeln der Geigerin, als müsste sie eine auf ihrer Backe sitzende Fliege verscheuchen.
«Es ist natürlich ein Experiment«, sagte Marc.»Man weiß nicht, was dabei herauskommt, entweder die einzelnen Stimmen hören aufeinander, folgen auseinander und das Ganze ergibt einen Sinn oder eben nicht: Dann ist es Chaos, Zufall, oder eben nichts, was auch in Ordnung wäre.«
Als sie nach der Probe mit dem Schlagzeuger, Ulrich, und der ersten Geigerin, Marietta, in einer düsteren Kneipe in Mitte saßen, sprachen sie über Kinofilme, Biersorten und die Situation der Neuen Musik. Im Wesentlichen sprachen Marc und Marietta, Tom machte hin und wieder einen Einwurf, Ulrich redete grundsätzlich nicht. Er saß dabei, körperlich anwesend, mit seinem hageren Gesicht und dem kurz rasierten Haar, das als ein scharf umrissener Schatten auf seinem Kopf lag und sich in einer theatralischen Spitze bis in die Stirn zog wie eine Faschingsteufelskappe aus Samt, aber sein Blick ging an den Sprechenden vorbei. Man war sich nie sicher, ob die weit vom Schädel abstehenden Ohren hörten oder nicht. Ein feines Lächeln an entsprechenden Stellen deutete hin und wieder auf ersteres hin, in seltenen Fällen gar ein Kommentar, den er abgab. Er rauchte unablässig, infolgedessen drehte er unablässig Zigaretten, die er eine an der anderen anzündete. Er war Österreicher, er kam aus der Steiermark.
Marietta fand ihn offenbar komisch. Marc hingegen fand sie super, ihre Blicke hingen auf ihm, über ihm, wie ein Fangnetz.
Warum das Publikum nicht in zeitgenössische Musikkonzerte ging, wurde verhandelt, auch nicht die sogenannten Intellektuellen, die sich alles darauf einbildeten, in moderne Theater- und Operninszenierungen, alle Augenblicke in zeitgenössische Kunstausstellungen und Performances zu rennen, nur bei der Musik setze es aus, so Marietta.
«Ich kann sie verstehen«, sagte Marc.
Marietta wusste nicht, wie er das meinte. Wieder saß da die unsichtbare Fliege auf ihrer Wange, die es abzuschütteln galt.
«Es ist einfach zu kompliziert. Wir sind zu kompliziert«, sagte Marc.»Man muss die Musik verstehen können, jeder müsste sie verstehen können. Die Musik muss man hören, und das reicht.«
«Du findest, das reicht?«
«Ich finde, das reicht«, sagte er, und: Ich finde, du bist ein interessantes kleines Ding, sagte sein Blick.
«Ich finde das nicht«, sagte sie. Dann könne man ja gleich Filmmusik machen oder in alle Ewigkeit Wagner und Beethoven nachspielen. Man dürfe aber dem Hörer ruhig etwas abverlangen, ihn fordern, herausfordern zu seinem Glück, seinem schwierigen, aber dafür hochwertigen Musikglück.
Ulrich gähnte und drehte sich eine Zigarette.
«Aber wir haben doch sonst nichts«, sagte Marc auf einmal, mit sternenhaft blinkenden, blankenden Augen.»Wir schaffen doch auch nicht die Liebe ab, weil sie spätromantisch ist.«
«Was?«Marietta schien verwirrt, vielleicht aufgrund dieser Augen.
«Nichts«, sagte Marc.»Vielleicht sollte man einfach Schlagerkomponist werden.«
«A jeder, wie er mog«, sagte Ulrich und blies einen Kringel.
Ob es denn eine Ordnung gebe, fragte Tom seinen Freund, als sie durch die Winternacht nach Hause gingen, im letzten Satz, ob da eine Ordnung sei oder ein Chaos.
Das werde man sehen, er wisse es nicht, sagte Marc.
«Gefällt sie dir?«, fragte Tom, obwohl dies ein ganz anderes Thema war.
«Wer?«
«Du weißt genau, wer.«
«Sie hat einen schönen Ton«, sagte Marc nach einem kurzen Lächeln. Tom aber hielt diese Antwort für eine Ausflucht, denn ein schöner Geigenton, so er, habe allenfalls wenig Einfluss darauf, ob jemand jemandem gefalle oder nicht.
«Was hat denn aber Einfluss?«, fragte Marc
«Ich weiß es nicht«, sagte Tom und sah auf den Asphalt hinab, auf dem der frische Schnee lag wie ein durchsichtiger Damenstrumpf.
Wenn also nicht ein Geigenton, so Marc, dann sei es also was im Einzelnen, das uns gefällt? Eine Nase, ein Augenaufschlag, ein Geruch?
Tom hatte schon oft darüber nachgedacht, wusste es aber auch nicht.
«Ist eine Nase wichtiger«, fragte Marc weiter und beschleunigte den Schritt,»als ein Geigenton?«Oder die Form gewisser, fuhr er fort, aus Keratin und einer Schuppenschicht, soweit er wisse, bestehenden Gebilde, genannt Augenwimpern , ob die beispielsweise entscheidender sei für das Gefallen oder Nichtgefallen einer Person als deren Fähigkeit, ein Musikstück zu interpretieren? Ob deren durch langjährige Übung und Entbehrung und Intellektualität erworbene Virtuosität, deren außerordentliche Befähigung, Musik zum Klingen zu bringen, weniger wert sei als die zufällige Anordnung von Hautzellen namens» Schönheit«, welche man bekanntlich umsonst hinterhergeschmissen bekomme und die auch noch, wie man höre, ziemlich vergänglich sei?» Oder wie? Oder was ist es, das uns gefällt«, fragte er Tom, der aber, weil er es nicht sagen konnte, mit einer Gegenfrage antwortete: Was denn umgekehrt das Instrument dieses Gefallens sei. Womit wir denn dieses Gefallen, das bezeichnenderweise ein passives zu sein schien, überhaupt wahrnähmen, ob dies das Auge sei, der Geist sei, oder die Nase, fragte er Marc, der es auch nicht wusste. Und so liefen sie durch die Nacht und forschten noch lange, denn vieles kennt der Mensch, doch sich selbst am wenigsten.
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