«Du rauchst gar nicht mehr«, sagte er. Nach fünfzehn Stunden war es ihm doch noch aufgefallen.
«Nein. Hab’s seinlassen.«
Keine Frage nach Gründen oder meinem Befinden. Seit wir uns kannten, hatte ich immer geraucht, schon auf dem Campingplatz am Atlantik mit Gordy, als wir alle sechzehn gewesen waren.
«Na komm, mein Alter, lass uns. Wir holen Xu am Gui ab, ich nehm deine geheime Brücke kurz in Augenschein, und dann düsen wir an die Vire. Bist du dabei oder bist du dabei?«
«Schwätzer«, sagte ich, und er grinste und boxte mich auf den Oberarm, auf genau die Stelle, an der ich noch Didiers Faust spürte.
Der Audi fräste sich durch den Schnee, bis einige hundert Meter vor der Brücke die Wehen zu hoch wurden. Kevin wendete und parkte, dann stiegen wir aus und folgten Xus Spuren den Uferweg entlang.
Über die tief verschneiten Felder blies eisiger Nordwind. In der Ferne sah ich die weiße Brücke, wie sie das kaltgraue Flüsschen überspannte, kahle Knicks und Kopfweiden, und manchmal segelte eine tief fliegende Krähe vorbei und rief nach ihren Artgenossen, die sich irgendwo verborgen hielten.
Von dem jungen Xu waren nur die Fußspuren zu sehen, sie führten zur Brücke, zurück vom Gui kamen keine.
Wir waren fast da, als Kevin noch einmal von Flauberts Autohof anfing. Während ich in dem Verkaufshäuschen gewesen sei, habe er sich ein bisschen auf dem Gelände umgesehen. Da habe ein alter Bootsanhänger in einer offenen Garage gestanden, und unter der Persenning sei ein wunderschönes Boot gewesen, eine alte Jolle, ganz aus Mahagoni, allerdings in erbärmlichem Zustand.
«Ich wünschte, ich hätte Zeit«, sagte er und blieb stehen. Er sah nicht mich an, sondern blickte über die Felder und fixierte einen Punkt in der Ferne.»Stell dir vor, du, Jesse, sein Freund und ich haben so ein altes Segelboot. Das zerlegen wir, setzen es Stück für Stück wieder zusammen. Wir machen es flott, und irgendwann segeln wir damit über die Ostsee.«
Er sagte das nicht mit seiner üblichen unaufhaltsamen, alles niederwalzenden Euphorie, sondern fast wie zu sich selbst, still und verträumt.
«Da ist er«, erwiderte ich möglichst tonlos, insgeheim aber froh, von dem Thema ablenken zu können. Vor uns lag die Brücke, im Schnee sah sie vollkommen anders aus. Der junge Herr Xu musste unter dem Brückenbogen gewesen sein, dort, wo die wilde Müllkippe war und an der Mauer aus Feldsteinen meine Zeichnung. Xu hatte eine grüne Pudelmütze auf dem Kopf und auffallend kräftige Augenbrauen. Über die Böschung zu uns heraufkletternd, suchte er nach Halt und musste immer wieder in den fast kniehohen Schnee greifen. Auch in seiner freien Hand sah ich keinen Block, keinen Stift.
«Quinfan!«, rief Kevin und winkte Xu Quinfan zu.»Na egal. Nur so ein Jungsding. «Seufzend schob er mit der Schuhspitze ein bisschen Schnee zusammen.»Ich wollte dir wenigstens von der Idee erzählt haben. Dieses Mahagoni … unfassbar schön.«
Die Fahrt hinüber ins Département Manche dauerte eine Stunde. Ich fragte mich, ob das hinter mir auf der Rückbank schlotternde Talent vielleicht sogar im Dunkeln zeichnen konnte, so wie man es Kaspar Hauser nachsagte. Denn schon in zwei Stunden begann es zu dämmern, und keiner wusste besser als ich, dass die Winterabenddämmerung ein rascher und kaum merklicher Übergang war, ehe sich stockfinstere Nacht über die Normandie senkte.
Für Kevin schien es jedoch kaum ins Gewicht zu fallen, ob seinem durchfrorenen Shanghaier Eleven vierzig Minuten blieben, um die letzte Brücke zu zeichnen, oder nur eine halbe Stunde. Er hatte so wenig Zweifel an Xus Fähigkeiten, wie er die meinen je angezweifelt hatte. So rauschten wir über die N13 in Richtung Carentan. Kevin legte eine CD von Amy Winehouse ein und unterhielt sich mit dem verstockten, vielleicht auch bloß zurückhaltenden Jungen über systemkritische chinesische Maler und Zeichner, die er in St: art vorstellen wollte. Warum hatte ich Kevin Brennicke in all den Jahren nie abgenommen, dass er seine Zeit mit etwas Sinnvollem verbrachte?
Es fing schon an dunkel zu werden, als er einräumen musste, dass er sich vertan hatte. Die fehlende Brücke führte gar nicht über die Vire. Im Marschland zwischen Isigny und Carentan lag eine ganze Reihe von im Juni ’44 heftig umkämpften Brücken. Xu reichte mir Kevins Lederfutteral nach vorn, und ich las von dem iPad die Passage in dem Dossier vor, die von vier über das Flüsschen Douve führenden Brücken handelte. Sie lagen nordöstlich von Carentan, und es gab einen erhöht liegenden einstigen Bauernhof, von dem aus man alle vier im Blick hatte. Fallschirmjäger und Gleiterinfanteristen der 101. US-Luftlandedivision hatten die vier Douve-Brücken zu sichern und zugleich den Bauernhof zu stürmen versucht, auf dessen Gelände sich die Deutschen verschanzt hielten und mit Mörsergranaten die ganze Nacht vom 10. auf den 11. Juni die Brücken eindeckten. Ich erinnerte mich an die Beschreibung. Kevin hatte auch mich um eine Zeichnung gebeten, die von der Anhöhe mit dem früheren Bauernhof den Fluss, die Brücken, das Marschland und in der Ferne die Silhouette der Stadt überblickte.
Die Schlacht um Carentan hatte sechs Tage gedauert. Erst am 15. Juni war die Stadt von den Allierten eingenommen worden, dem selben Tag, als wenige Kilometer weiter südlich Anniks Großvater getötet wurde.
«Okay«, sagte Xu von hinten. Er brauche drei Minuten, die aber ungestört und für sich. Ich ließ mir nichts anmerken, weder Skepsis noch Staunen, und genauso wenig sah ich in Kevins Miene eine Regung, als wir im letzten Licht die verschneite Anhöhe hinauffuhren und oben auf ein verlassenes weißes Plateau kamen, das vielleicht ein Parkplatz war oder nur ein gefrorener Acker. Keine Mauer, Zäune oder Geräte, nicht mal Überreste oder Schrott, rein gar nichts wies darauf hin, was hier einmal gestanden hatte und vor siebzig Jahren passiert war.
Xu Quinfan zog erneut die Mütze über die dunklen Borstenhaare und stieg wortlos aus. Kevin ließ den Motor laufen. Wir blieben sitzen und sahen zu, wie der Junge davonstiefelte, die Hände in den Manteltaschen. Er war klein, schmal, ein ernster junger Mann. Was für stechende Augen! Ein paarmal hatte ich von hinten seine Blicke fast wie ein Glühen auf der Wange gespürt und mich gefragt, wie Kevin mich wohl vorgestellt und was er von mir erzählt hatte. Die auf die Pegasusbrücke und unter die Brücke am Gui gesprayten Zeichnungen waren Xu mit Sicherheit aufgefallen, doch erwähnt hatte er sie in meiner Gegenwart mit keinem Wort.
Ohne Eile stapfte er durch den Schnee bis zum Rand des Plateaus. Dort blieb er stehen. Es sah aus, als würde ein Film einfrieren.
«Hast du eine Vorstellung, wie er das macht?«, flüsterte Kevin.»Ist doch absolut irre.«
«Er memoriert«, sagte ich.»Wahrscheinlich zeichnet er aus der Erinnerung. Und ich glaube auch, du wirst nichts auf Papier von ihm kriegen. Er arbeitet am Schirm. Er ist selber einer.«
Keine drei Minuten waren vergangen, als er zurückkam. Inzwischen war es fast dunkel, nur der Schnee ließ noch Umrisse erkennen. Die Tür ging auf, Xu stieg ein. Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er weinte. Kevin fuhr los, ohne ein Wort zu sagen, bis die Anhöhe hinter uns lag.
«Und jetzt, wohin?«, fragte er, als wir bei Saint-Côme zurück zur N13 kamen.»Was meinst du: Lädst du Quinfan und mich in deine Möwenburg ein?«
Kevin schlug vor, dass wir uns Essen holten, Xu sich zurückzog, um zu zeichnen, und wir inzwischen nachsahen, wie viel Wein noch da war.
«Ich möchte mit dir unbedingt über diese Jollenidee reden. Ich krieg das einfach nicht aus dem Kopf.«
«Weißt du noch, die Bunthäuser Spitze«, sagte ich,»unser Spaziergang mit Ira und Jesse?«
Und er sagte:»Gott, das ist zehn Jahre her, oder?«
Und ich:»Über dreizehn. Erinnerst du dich an das Boot, das du damals umgetauft hast?«
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