Mirko Bonné - Nie mehr Nacht

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Markus Lee reist in den Herbstferien in die Normandie, um für ein Hamburger Kunstmagazin Brücken zu zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle spielten. Lee nimmt seinen fünfzehnjährigen Neffen Jesse mit, dessen bester Freund mit seiner Familie in Nordfrankreich ein verlassenes Strandhotel hütet. Überschattet wird die Reise von der Trauer um Jesses Mutter Ira, deren Suizid der Bruder und der Sohn jeder für sich verwinden müssen. In der verwunschenen Atmosphäre des Hotels L’Angleterre entwickelt sich der geplante einwöchige Aufenthalt zu einer monatelangen Auszeit, die nicht nur für Markus Lee einen Wendepunkt im Leben markiert.
NIE MEHR NACHT erzählt schonungslos und ergreifend von der Befreiung Frankreichs, bei der zahllose junge Männer umkamen, die kaum älter als Jesse waren. Dem Zeichner aber ist es zunehmend unmöglich, die Verheerungen des Krieges künstlerisch darzustellen. Doch beinahe noch schwerer fällt es ihm, den Tod der geliebten Schwester zu vergessen. Denn während ein dramatisches Kapitel europäischer Geschichte auf unheimliche Weise in ihm auflebt, stellt sich Markus Lee einem Trauma der eigenen Jugend und Abgründen seiner Familie.

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Mirko Bonné

Nie mehr Nacht

Für Nick

Nacht — wird nicht müde –

Ist wie der Sand am Meer –

Zu unscheinbar die Unterschiede –

Bis nie mehr — Nacht sein wird –

Emily Dickinson

I. NACHT FAHRTEN

1

Es gab nichts, was nachts anders war als am Tag. Allem fehlt nur die Farbe, sagten wir uns.

«Das Bett ist das Bett, das Zimmer das Zimmer. Der Flur ist der Flur und die Treppe die weiße Treppe.«

Die Tür war die Tür, und sie war zu.

Draußen der Garten ist der Garten auch in der Nacht, sagten wir uns. Und Ira wusste dabei, und ich wusste es ebenso, jeder für sich musste lernen, allein zu sein, auch nachts. Auf die unzähligen Nächte in unserem gemeinsamen Bett folgten die langen Jahre, als jeder in seinem eigenen Zimmer schlief. Schon lebte jeder in der eigenen Wohnung, hatte eigene Schränke für die eigenen Sachen, machte sich eigene Gedanken und ertrug, so gut es ging, seine Angst allein.

Länger als ich es wahrhaben wollte, hatte ich mich gegen das Alleinsein gesträubt, so schien es mir rückblickend. Seit ich mit neunzehn zu Hause ausgezogen war, hatte ich zusammengenommen kein Vierteljahr lang allein gelebt. Ich war in eine WG gezogen, dann in eine andere, und von dort in eine dritte. Mitbewohner kamen und gingen. Eine Zeit lang hatte ich mit drei Freunden zusammengewohnt, später waren es zwei, dann nur noch einer. Als der letzte zu seiner Freundin zog, sah auch ich mich nach einer Mitbewohnerin um.

Währenddessen war Ira auf Reisen. Über zehn Jahre lang, bis sie dreißig war, reiste meine Schwester durch die Welt, lernte Sprachen und hatte mal hier einen Freund und mal dort. Für eine Weile wohnte sie bei Hector in Rio, dann bei Dave in Brooklyn, bevor sie wie ein großer grauer Zugvogel weiterflog nach St. Petersburg oder Netanja. Sie beschrieb mir einen Liebhaber, wenn ich ihr dafür erzählte, wen ich gerade anhimmelte. Erst waren es Kommilitoninnen, später Kolleginnen — eine Malerin, eine Clipkünstlerin, eine junge Slowenin mit eigenem Blumenladen, der kaum größer war als ein Ballonkorb. Mal wohnte ich bei einer Frau, mal zog eine Freundin zu mir. Gemeinsam umgezogen war ich nie.»Nestbauschaden «nannte das unsere Mutter.

Ira reiste durch Israel, um Hebräisch zu lernen, und wurde schwanger. In Hamburg heiratete ich meine Nachbarin. Ira kam aus Netanja zurück und brachte einen Sohn zur Welt. Ich ließ mich scheiden. Aber meine frühere Frau blieb in der Nähe, Saskia und ich blieben Freunde. Aus Angst umeinander wurden wir wieder zu Nachbarn.

Rückblickend schien mir außerdem, dass im Gegensatz zu mir meine Schwester sehr wohl versucht hatte, sich gegen ihre Angst zu wappnen. Oder waren ihre Reisen eine Flucht gewesen? Wovor? Vor wem? Was uns peinigte, schienen wir entweder in uns zu tragen oder waren es selbst. Beide nahmen wir es überallhin mit, ihm entkommen, das wusste wir, konnten weder sie noch ich.

Irgendwann wohnte sie in einem eigenen Haus. Es war kein schönes Haus, nichts daran war besonders, außer dass es in den letzten Jahren vor ihrem Tod der Mittelpunkt ihrer Welt war. In ihrem Haus, sagte Ira, stehe zu jeder Sekunde alles auf dem Spiel, bei Tag und auch auch in der Nacht.

Allein mit dem Kind, fühlte sie sich in dem Haus eingemauert. Bei Wind und Wetter — immer! — kamen um kurz nach halb zwei die Nachbarskinder aus der Schule und fuhren mit Fahrrädern durch die Siedlung, so wie sie selber vor zwanzig Jahren keine zehn Kilometer entfernt durch Schnelsen gefahren war.

Moos überwucherte den Garten, und schon im März kamen die Mücken. Ab Mitte Juni bellte der kleine Hund von nebenan gegen die Terrassenmarkise an, sobald sie herausgekurbelt wurde. Im Hochsommer schob sie den Buggy mit dem Jungen auf trostlose Spielplätze. Im Herbst stand sie an der Terrassentür und starrte durch das Gitter des Regens auf eine bemooste Pergola und lauter Thujen. Zwei Fledermäuse gaukelten durch die Dämmerung. Manchmal bekam sie Lust, den Rasen umzugraben, die schwarze Erde ans Licht zu holen, aber tat es nicht. Es wurde kalt, und in seinem Kellertank tropfte das Heizöl, im Kinderzimmer, im Vorgarten, in der Garage, wo immer man stand und horchte, überall war es zu hören.

Einmal hatte sie mich gebeten, ihr Haus zu zeichnen. An einem Wintertag standen wir im Garten, und sie zeigte mir, wie sie sich das Bild vorstellte: Das Haus sollte wegfliegen. Es sollte aus lauter großen grauen Zugvögeln bestehen, die alle wie sie aussahen und davonflatterten.

Ira nannte ihr Haus den Versteinerungszustand.

Das Haus war nicht groß. Aber ihre Angst war es, und anders als meine wurde sie größer. Auf ihren Reisen hatte sich die Beklemmung gelöst, pulverisiert, in alle Richtungen davongeweht war ihr die alte Nachtangst manchmal vorgekommen. In jedem fremden Land hatte die Schwärze versucht, sich im Dunkeln neu zu sammeln und zu bündeln und in sie einzudringen, so wie sie es immer gemacht hatte. Irgendwie aber war es anders gewesen als zu Hause. Die neuen Eindrücke, die fremde Sprache, die Leute hatten sie abgelenkt, und allmählich hatte sie vergessen, dass es etwas gab, was ihr Angst machte. In Rio fürchtete sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit. Irgendwann fing sie an, auf Portugiesisch Selbstgespräche zu führen, in Netanja dasselbe, nur auf Hebräisch, und schon träumte sie in der neuen Sprache. Und bald war sie nicht mehr allein. Im Ausland blieb immer einer über Nacht, einer wie Dave oder Hector, der neben ihr lag und im Dunkeln redete oder zuhörte oder schnarchte.

In Wellingsbüttel war es anders. In ihrem Haus war sie allein, auch wenn das Kind da war. Sie dachte an das Öl und dachte über das Öl nach. In ihrer Vorstellung überschwemmte es den Tank, dann den Keller und stieg schließlich durchs Haus. Tintig troff es über die Stufen, schwappte über Böden und Teppiche, manchmal floss es nachts ins Kinderzimmer, und sofort wurden die Wände davon grau. Überall eine graue Tinte, die mich an die Bilder erinnerte, die Degas an seinen grauesten Tagen gemalt hatte. Und so grau war man auch selber — ohne jedes Eigenleben, hatte Degas gesagt.

Ira erzählte mir, sie sehe manchmal abends eine Alte, eine mausgraue Frau, die auf dem Gehsteig vorm Haus hin und her ging. Vielleicht eine Verwirrte, es gab doch in der Nähe, am Alsterlauf, ein großes Altenheim, sagte ich zu ihr. Sie glaubte das nicht.

«Das Eigenleben verliert sich«, sagte sie.»Ich bin die Frau.«

Und ich, ins Telefon:»Einbildung. Soll ich vorbeikommen? Hast du gegessen? Ich bring was mit. Wir können reden, oder einen Film gucken.«

Sie wollte nichts essen, einen Film sehen auch nicht, vielleicht konnten wir Musik hören und uns unterhalten.

«Ich fahre gleich los. Nimm solange ein Bad. Wie geht es Jesse? Schläft er schon?«

Ja, der Kleine lag in ihrem Bett, er schlief.

«Beruhig dich, bitte, versprich es.«

«Ich versuche seit heute Morgen, mir bewusst zu machen, dass die Wände bloß Wände sind«, sagte sie.»Aber je mehr ich das versuche, umso weniger glaub ich meinen Gedanken. Markus, meine Gedanken, das sind doch gar nicht meine.«

Wie den Augenblick, da das Blatt sich wendete, wie den Moment erkennen? War man denn in der Lage, einen Augenblick zu erkennen? Das hieße doch, sich auf den Zeitpunkt gefasst zu machen, da nichts mehr blieb, wie es eben noch war.

Wenn ich an meine Schwester dachte, kamen mir die Fragen in den Sinn, die Ira und ich in den Nächten in ihrem Haus sinnlos hin und her gewälzt hatten. Es gab darauf keine Antworten. Es waren Fragen, die Antworten ausschlossen, und immer öfter beschlich mich das Gefühl, dass Ira sie nur deshalb stellte.

«Wenn du dich in die Enge getrieben siehst, wenn sich alles, aber auch alles gegen dich verschworen zu haben scheint und du meinst, nicht eine Minute länger kannst du es aushalten vor dieser Wand, woher willst du dann die Kraft nehmen, das alles als Trugschluss zu durchschauen?«

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