Inhalt
[Cover]
Titel
Zitat
1. EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER
2. IM WOLKENMEER
3. DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET
4. MÖWEN ÜBER DEM EBBW
5. BEGEHREN, WOZU?
6. POST AUS PORTSMOUTH
7. TRIBUNAL
8. URTEILSVERKÜNDUNG
9. EINE SUITE IM MOND
10. DAIQUIRIS UND LÄUSE
11. REGENMORGEN IN DER AUTOMOBILWERKSTATT
12. GREAT WESTERN MAIN LINE
13. NIEMAND NEEMT AFSCHEID
14. DIE HOHE KUNST DER SELBSTHERRLICHEN AUSFLÜCHTE
15. VOM GLÜCK, ZU SPÄT ZU KOMMEN
16. BRIEF AN EINEN RIESEN
17. KRISTINA
18. SCHNEETREIBEN IN LONDON-PADDINGTON
19. EIN GÜRTEL AUS DREI STERNEN
20. DIE KATZE MISERY
21. MASKENBALL
22. TÜR ZU EINEM LEEREN ZIMMER
23. DAS VERSCHOLLENE TELEGRAMM
24. VIER UNERWARTETE BEGEGNUNGEN
25. DAS UNGEHEUER AUS CLEVELAND
26. AENIDE UND DANIELLE
27. DRECK IM OHR
28. SHIMIMURAS LÄCHELN
29. DIE NACHTIGALL AUS DEM KOFFER
30. SWONA UND STROMA
31. DAS ENDE DER ENGE
32. REISEVORBEREITUNGEN ZUR GEISTERSTUNDE
33. DAS MEETING IN BARMOUTH
34. DU WIRST SEHEN, DU WIRST SEHEN
35. GOLDRAUSCH
36. DIE WEISSE FLOTTE
37. OGILVY’S HOSTEL
38. DIE NIEMANDSINSEL
Zitatnachweis
Dank
Autorenporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Alle Menschen lieben,
ohne sich der Einzigartigkeit
ihrer Gefühle bewusst zu sein.
BORIS PASTERNAK
SEELAND
SCHNEELAND
1
EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER
Dort, wo wir hingehen, gibt es Bäume, die höher sind als die allerhöchsten Häuser auf der Welt. 20 riesige Männer, die sich an den Händen halten, können um ihre Stämme nicht herumfassen. Meine Eltern erzählen mir alles über das Land, wo wir hingehen, und ich stelle es mir vor! Dort regnet es nicht immer, bloß manchmal, wenn die Blumen und das Gras Durst haben.
Und wir sind dort nicht mehr arm. Mein Vater hat Arbeit, meine Mutter einen Garten und ich ein Pferd, auf dem ich zur Schule reite, wo ich eine Lehrerin habe, die mich nach vorn an die Tafel ruft, damit ich allen zeige, woher ich komme und wie schön man dort lachen kann.
Aber ich werde nicht lachen.
Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel. Aber jetzt bin ich hier.
Der Ausguck seines Kontorzimmers lag weit oben in der Backsteinmauer, von dort überblickte Merce Blackboro die lebendige Welt. Wo Richtung Nordosten mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke die Dunkelheit aufzog, endete die Reihe halb fertiger, halb schon wieder verfallener Gebäude, während in den letzten Flecken Helligkeit die hier und da unterspülte Kaistraße ins Hafenbecken überging, als würde sie abtauchen und dazu einladen, dasselbe zu tun, jedermann einladen, abzutauchen und zu verschwinden.
Drüben bei den früheren Alexandra Docks, in dem Dunst, den der Regen vom Fluss aufsteigen ließ, machte ein furchtbar rostiger Frachter fest.
Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel, aber jetzt bin ich hier …
Angestrengt blickte Merce hinüber. Einen Fuß auf dem Boden, den anderen auf dem Sims, saß er auf dem Fensterbrett, der Schriftzug am Bug des alten Kastens ließ sich jedoch nicht entziffern. Ein Weile beobachtete er das Manöver: Das Schiff drehte bei, im prasselnden Regen schwenkten die Ladebäume aus … Der letzte Schlepper der Fergusons, die Lilith, aus deren dickem hellblauem Schornstein Qualm quoll, bugsierte den Frachter an die Kaimauer.
Dann aber musste er eingeschlafen sein. Oder die Zeit an diesem Nachmittag des 21. Februar 1921 war stehen geblieben.
In seinem Innern war da wieder die merkwürdige Kinderstimme, die er seit einiger Zeit hörte, sobald er müde und traurig wurde – oder umgekehrt: sobald die Traurigkeit, die kaum noch nachließ, ihn so erschöpfte, dass er oft mitten am Tag die Augen zumachen musste und einschlief. Zumindest schien ihm das so. Denn zugleich war er wach – er hörte ja die Stimme.
Mit wem redete das Mädchen?
Es klang, als würde ihm eine Acht- oder Neunjährige in einem nicht sehr vollen, hallenden Laderaum etwas erzählen, unaufgeregt, erstaunt eher von dem, was ihr durch den Kopf ging, als von dem, was sie vor sich sah.
Dort, wo wir hingehen, ist der Wald so groß, darin können wir das ganze Leben verbringen, sagt Mommy, und nie werden wir uns fragen, wo der Wald aufhört.
Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben. Da gibt es Flüsse, die geben den Ländern, die sie durchfließen, ihre Namen, und in den Flüssen leben riesige Fische, die von einem Meer zum anderen schwimmen, vom Eis im Norden in die Wärme der Tropen. Mommy weiß, was Tropen sind. Ich stelle sie mir golden vor, glitzernd, wie Inseln in der Sonne.
Ruhig und bedacht sprach das Kind jeden seiner Sätze. Es wirkte älter, wenn man genau hinhörte. Merce hatte keinen Zweifel daran, dass es sich an ihn wandte. Ja! Es war ein so lebendiger Eindruck, dass er sich gar nicht fragte, ob die Stimme bloß Einbildung war oder ob diese kindlichen Monologe von einem Land des Glücks seinen eigenen Wünschen und Träumen Ausdruck gaben, weil er diese vergessen oder verdrängt hatte.
Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben …
Als er aufwachte und wieder hinaussah, lag der rostige Dampfer reglos und stumm im Zwielicht unter der Transporterbrücke. Kein Seemann war an Deck zu sehen. Auch das alte Ungetüm der Stahlbrücke bewegte sich nicht. Nur der endlose Regen rauschte weiter in den Usk, denn auch an diesem Tag strömte der sich durch Newport schlängelnde Fluss nicht Inseln in der Sonne entgegen, sondern war dunkel und unwirtlich wie der Meeresgrund.
Der Usk und der Ebbw, die zwei Nebenflüsse des Severn, in denen er als Kind mit seinem Bruder Dafydd und seiner Schwester Regyn im Sommer nach Krebsen getaucht hatte, waren reißende Ströme geworden. Schlierig grün trat der Ebbw über die Ufer und überschwemmte die Felder zwischen Caldoen und Mynyddislwyn. Von Mai bis August tummelten sich für gewöhnlich Forellen in der Strömung des Usk, den sein Vater so liebte. Leuchtend gepunktet versteckten sich die Fische hinter Steinen, und sobald der Schatten eines Menschen auf der Wasseroberfläche erschien – dem Himmel der Fische –, flitzten sie davon.
Jetzt aber spuckte der Usk schon seit Wochen öligen Morast in die Werften und auf die Kranstraßen.
MONSUN ÜBER DEM WINTERLICHEN SÜDWALES
Auf dem Schreibtisch lag das South Wales Echo. Das Blatt suchte sein Heil in Zynismus. Gefühlig, detailliert und unterhaltsam wurde von Alten und Kindern berichtet, die zwischen Merthyr Tydfil und Swansea in früheren Bächen oder Tümpeln ertrunken waren.
IST DIESER REGEN DIE RACHE DER DEUTSCHEN?
Keinem Reeder, keinem Kapitän, waren sie halbwegs bei Verstand, könne man es verdenken, wenn sich nur noch selten ein Frachtschiff aus Irland oder Übersee den Severn stromaufwärts nach Newport verirre – düster, mit zuckenden Lidern, hatte das sein Vater Emyr gesagt und dabei den weißen Schopf geschüttelt.
Die von Schiffbau und Seehandel lebenden Firmen des alten Blackboro und der anderen Newporter Patriarchen hatten mitgeholfen, die Deutschen in die Knie zu zwingen. Sie hatten den Großen Krieg überstanden, der seit fast zweieinhalb Jahren Geschichte war. In fast jeder Familie hatte in den Jahren seit 1918 die Spanische Grippe gewütet und nicht selten den Firmeneigner oder seinen Erben getötet. Die Dörfer rings um Newport und an der Küste bis Cardiff verwaisten und verfielen, seit immer mehr junge Leute in den Städten Arbeit suchten oder, weil sie nicht fündig wurden, nach Amerika, Kanada und Australien auswanderten. Die Dempseys, Blackboros, Fergusons und Frazers hatten sich allen Widerständen zum Trotz behauptet und hätten nie für möglich gehalten, nach Krieg, Seuche und Landflucht sich Wind und Wetter geschlagen geben zu müssen. Nach drei Monaten fast ununterbrochener Regenfälle waren viele alteingesessene Betriebe mit ihrer Weisheit genauso am Ende wie das Echo.
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