Ich würde mich freuen, wenn Sie mitkämen. Von Bremerhaven nach Hamburg ist es nicht weit, mit dem Zug nur anderthalb Stunden! Ich könnte Sie fast nach Hause bringen — könnte Ihnen erzählen — von mir — und Sie mir — von sich. Es wäre eine gute letzte Reise.
Lilith«
Kevin saß in der Küche, schon in Mantel und Schal, vor sich das Lederfutteral und seine Autoschlüssel. Mit glasigen Augen blickte er durch mich hindurch und stöhnte. Warum war ich so munter? Wieso hatte ich keinen Brummschädel, anscheinend ja nicht mal leichte Kopfschmerzen, wollte er wissen, und ich zuckte bloß mit den Schultern, sagte, ich hätte drei Monate Zeit gehabt, um mich mit dem Wein aus der Gruft des L’Angleterre anzufreunden, sagte aber nicht, dass ich jedes Mal, wenn ich in den Keller gegangen war, um ein oder zwei neue Flaschen zu holen, auch ein Glas Leitungswasser getrunken hatte. Ich stellte ihm eines hin. Funkelnd spiegelte sich der blasse Schneehimmel darin, so lange bis Kevin das Wasser nicht mehr nur ansah, sondern es hinunterstürzte.
«Gib mir fünf Minuten«, sagte ich, ließ ihn am Tisch sitzen und stieg hinauf in den ersten Stock. Ich zog Kevins Bett ab, dann meines, warf die Wäsche in den Wäscheschacht im Badezimmer und schloss dort und in unseren Zimmern die Fenster.
Vor den Bildern im Korridor überlegte ich, doch kam auf nichts, was ich hätte mitnehmen müssen. Was noch mir gehörte, trug ich bei mir oder war Teil meiner Gedanken. Ich brauchte kein Andenken einzustecken, spürte ja, als Souvenir der Zeit im L’Angleterre nahm ich die Leere mit, und wusste endlich auch, sie war gar keine Leere, sondern Abwesenheit. So, wie mir alles zerbrochen erschienen war, vermisste ich jetzt jeden, nicht nur die Kinder, meine Eltern oder Juhls. Auf einmal war ich wieder zu allem Möglichen unterwegs, und dass ich nicht wusste, was mich erwartete, vergrößerte nur meine Neugier.
War der junge Flieger je im L’Angleterre gewesen? In seinem Buch hatte McCoy Lee das Hotel, das für ein paar Monate nach dem D-Day britische Offiziersunterkunft geworden war, nicht erwähnt. Er war kein Offizier. Dennoch hatte er vielleicht im Hof gestanden oder war mit Kameraden in der Küche verköstigt worden, während alles auf den nächsten Marschbefehl wartete.
In der Bibliothek stellte ich die Billardqueues in den Ständer. Auf dem Lesetisch lag der Hemingway-Band. Ich schob das Buch ins Regal. In der Lobby setzte ich das Telefon in Gang, lauschte in den Hörer, hörte das Freizeichen. Ich ging in die Küche und sah Kevin draußen am Auto telefonieren. Ich spülte sein Wasserglas aus, trocknete es ab und stellte es zurück in den Schrank.
Vorbei an weißen Feldern und tief verschneiten Waldstücken fuhren wir in die Stadt. Kevin kam nur langsam zu sich, während ich mich fragte, wie der Junge, der auf uns wartete, es wohl anstellen wollte, die Brücken zu zeichnen. Auf Äckern und Böschungen lag der Schnee knöchelhoch, vielerorts hatte starker Wind für kniehohe Schneewehen gesorgt. Am Gui und an der Vire war jedoch im Sommer und Hochsommer um die Brücken gekämpft worden. Für die Zeichnungen, wie Kevin sie sich vorstellte, schien die Verrückung der Jahreszeit unerheblich zu sein.
Ich bat ihn, einen kurzen Abstecher zu machen, und zeigte ihm den Weg durch den dichten Verkehr in den Bayeuxer Vororten. Erst als wir aufs Gelände von Flauberts Autohof fuhren, fiel mir ein, dass Sonnabend war und Annik an Wochenenden nicht arbeitete, sondern ausschlief und Serge entgegenfieberte. Dennoch stand ihr BMW vor dem Verkaufspavillon.
Kevin blieb im Auto sitzen und wendete, und ich stapfte die beschneiten Stufen hinauf zum Eingang, klopfte ans Türglas und trat ein. Nur der junge Flaubert war da, weder sein Vater noch Annik. Didier war erstaunt, mich zu sehen, boxte mir erfreut auf den Arm und erzählte sofort, dass er den Mercedes verkauft hatte, nie und nimmer würde ich erraten, an wen.
«Ist sie da?«, fragte ich ihn, und er stutzte, ehe er den Kopf schüttelte und lachte.
«Urlaub«, sagte er nach Luft japsend auf Englisch.»Sie hat ein paar Tage freigenommen und ist weggefahren. Mit Ihrem Wagen!«
Wenn Didier lachte, trat sein ausgefrästes Nasenbein sehr deutlich und schön hervor. Ich fragte mich, wer es zustande gebracht hatte, so punktgenau auf die Nase einzuschlagen.
«Ich habe etwas für Ihren Vater. Können Sie ihm die geben, bitte, und ihm in meinem Namen danken?«
Ich gab ihm die Schlüssel für Hoftor, Gerätehaus und Kücheneingang des L’Angleterre . Didier nahm den Schlüsselbund und versenkte ihn kommentarlos in seiner Nadelstreifenweste.
Ich bat ihn, Annik zu grüßen.
«Werd ich machen.«
«Sagen Sie ihr, in dem Mercedes funktioniert die Heizung nicht richtig.«
«Weiß sie. Es war ihr egal.«
Er sah mich an.
Ich sah ihn an.
Es gab nichts weiter zu sagen.
«Geben Sie mir ein Blatt Papier und einen Stift bitte.«
Ich wartete ab, bis er beides auf den Tresen legte, dann begann ich ohne Zögern zu zeichnen. Didier sah mir zu. Ich zeichnete Anniks Augen, nur Pupillen, Lider, Wimpern, Brauen und Übergang von Nase zu Stirn. Es dauerte keine Minute. Als ich fertig war, schob ich ihm das Blatt hin und bat ihn, es ihr zu geben.
«Werd ich machen«, sagte er wieder nur, hörte aber nicht auf, die Zeichnung zu betrachten.
Ich bat ihn um ein weiteres Blatt. Darauf zeichnete ich seine Nase, ihren Rücken, der in der Mitte abbrach und zu einem Krater abfiel. Auf dem Kratergrund stand ein kleiner schwacher Glanz.
«S’il vous plaît. Pour vous.«
Didier stutzte, dann lachte er. Er verschluckte sich, hustete, lief rot an und lachte trotzdem immer weiter.
Halb verhungert machten wir uns in der Pension, die ein kleines, exquisites Hotel im Zentrum war, über das Frühstücksbüfett her. Kevin trank drei Tassen Kaffee, dann endlich ließ ihn die Migräne aus den Fängen und kehrte auch seine Neugier zurück. Wieder wollte er wissen, was ich auf dem Schrotthof gemacht hatte, aber auch diesmal antwortete ich nur ausweichend und sagte ihm bloß die halbe oder ein Viertel der Wahrheit. Ich hatte etwas abgegeben. Der Mutter und der Tante des alten Schrotthändlers gehörte das L’Angleterre , noch zumindest, denn Flaubert und Sohn waren drauf und dran, das Hotel an einen Amerikaner zu verkaufen.
Sein Smartphone piepte. Er nahm es, stand auf und ging zum Telefonieren in den Wintergarten. Nana, dachte ich.
«Der Junge will es wirklich wissen!«Kevin setzte sich wieder. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass er von dem jungen Zeichner redete. Erst da fiel mir ein, dass wir mit ihm verabredet waren. Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht, ihn nicht vermisst, ich kannte den Jungen ja nicht, für mich gab es ihn gar nicht.
Er hieß Schuh. Schuh hatte sich schon früh am Morgen nach dem Gui erkundigt und sich den Weg zu der alten Steinbrücke schildern lassen, dann ein Taxi gerufen und war hingefahren.
«Tja, und jetzt ist er schon fast fertig«, sagte Kevin. Selbst er konnte sein Staunen nicht verhehlen.»Eine Stunde braucht er noch, dann ist auch der Gui gemacht. Fehlt noch die Vire-brücke. Willst du seine Zeichnungen sehen? Schuh hat sie heute Morgen gemailt. «Er klappte das Lederfutteral zurück. Hellblau leuchtete sein iPad auf.
«Nein, sagte ich,»lass mal lieber.«
Ich aß ein paar Bissen, hatte aber keinen Appetit mehr. Kevin erzählte, er habe Schuh über Nanas früheren Doktorvater kennengelernt. Ihr alter Prof hatte zu einem Abendessen Zeichnungen eines jungen Chinesen mitgebracht und sie ihm kommentarlos vorgelegt.
«Einen chinesischen Teenager lässt du Brücken des D-Day zeichnen — du bist wirklich vollkommen irre.«
Kevin freute sich, wie er sich immer ein Loch in den Bauch freute, wenn er alle überraschte. Das war wohl das Höchste für ihn, etwas Besseres hatte das Leben nicht zu bieten.
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