Die Kitty war kein kleines Schiff. In der halben Stunde vor ihrer Abfahrt vertrieb ich mir die Zeit und lenkte mich ab von Kälte und grässlicher Nervosität, indem ich mit grad noch unauffällig großen Schritten auf der Pier hin und her lief und ihren Rumpf vermaß. Vom Heck, über dem die Zwillinge der Schornsteine aufragten, bis zum Bug mit dem immer noch aufgeklappten Tor brauchte ich hundertsiebenundvierzig Schritte.
Früher musste sie sehr schön gewesen sein, geradezu elegant für ein Fährschiff. Supermanche stand riesig und so rot, wie der Traktor war, an ihrer Bordwand. Auf dem überall von Rost angefressenen Rumpf saßen drei Decks und die Brücke mit dem Funk- und Radarmast. Knapp über der Wasserlinie ging das verrostete Weiß in ein seltsam leuchtendes Blau über, in dem auch die Schornsteine lackiert waren und das mich an das Himmelsblau auf so vielen von Alfred Sisleys Gemälden erinnerte.
Ich stapfte durch den Schnee, der auf der Pier so hoch lag, dass ihn nicht mal der rote Traktor mit seinen Anhängern zu Matsch gefahren hatte. Verlassen stand der Trecker neben der Bordwand und tickte leise, als ich an ihm vorbeiging. Ich fing an zu frieren, und als würde ich mich in mir selber verkriechen, fiel mir die Story von Hemingway ein, die ich im L’Angleterre zuletzt gelesen hatte. Sie handelte von mir. Haben, Nichthaben. Alles haben wollen, nichts bekommen. Nach einem Sturm fuhr ein Wracktaucher allein in seinem Boot auf die Bucht hinaus, begleitet nur von Vögeln, Wolken aus Seevögeln, die über etwas kreisten, was unter Wasser lag. Da lag nur wenige Meter unter der Oberfläche ein gekenterter Passagierdampfer, das größte Schiff, das der Taucher je gesehen hatte. Auf dem Meer war kein Mensch, und der Taucher wusste, alles an Bord gehörte ihm, wenn er es schaffte, in das Schiff hineinzukommen.
Ich ging die Bordwand entlang, wieder vorbei an dem roten Traktor, der im Schnee stand und so weit abgekühlt war, dass der Motorblock nicht länger tickte. Langsam schritt ich die auf Höhe mit der Pier liegende Bullaugenreihe ab, und ich blickte die Bordwand der Kitty hinauf und sah andere Reihen und noch mehr Reihen alter, trüber Bullaugen.
Aber er schaffte es nicht.
Der Wracktaucher hatte nur einen Schraubenschlüssel, und mit dem tauchte er hinunter, ohne dass es ihm gelang, eines der Bullaugen zu zertrümmern.
Daran dachte ich, als ich sie rufen hörte.
«Hallo!«, rief sie,»Markus! Hier, hier oben!«, und wirklich, da stand sie, an der Reling des mittleren Decks, und winkte. Etwas Orangegelbes hatte sie auf dem Kopf, aber es war kein Helm, vielleicht eine Wollmütze.
«Wir legen ab! Gehen Sie zum Bug«, rief sie.»Dann über die Rampe an Bord, ja? Ich komme runter und treffe Sie da!«
Sie wiederzusehen war ganz anders. Sogar meine Angst, ihr gegenüberzustehen, hatte sich gewandelt. Die alte Furcht, sie war nicht mehr da. Ich wusste, ich saß weder einer Illusion auf, noch würde mir ein Gespenst begegnen. Als ich auf die Kitty ging und durch das Bugtor das Schiff betrat, wartete im Halbdunkel des verlassenen Autodecks niemand als Lilith auf mich, und nur noch weit entfernt oder tief im Innern hörte ich Iras Stimme sagen:»Bitte küss mich.«
Während sie mich durch das Schiff führte, fragte sie, weshalb ich nichts bei mir hatte, kein Gepäck, nicht mal eine Tasche.
«Gar nichts. Wie kommt das?«
Dabei lachte sie mich an, aber ich sah, dass nur ihr Mund lachte. Die grünen Augen blieben ernst, wurden groß und weit und schienen umso mehr zu staunen, je länger ich ihr keine Antwort gab.
Ein fades, dünnes» Hallo «hatte ich hervorgepresst, einmal ein kümmerliches» gut«, und zwei-, dreimal hatte ich» ja «gesagt und dabei das Gegenteil gemeint.
Wir hatten abgelegt. Eine Weile stand ich mit ihr an der Reling und sah zu, wie sie Danielle und anderen Leuten zuwinkte, die auf die Pier gekommen waren, um das Schiff zu verabschieden. Als die Kitty durch die Reede dampfte und dann hinaus auf den Kanal, ging ich mit Lilith hinein, lief hinter ihr her durch lauter leere weiße Gänge, stieg mit ihr eine Treppe hinunter, der das Geländer fehlte und auf der schon kein Teppich mehr lag, und folgte ihr in den früheren Speisesaal, wo auf einer turnhallengroßen Fläche nichts mehr war, weder Tische noch Stühle noch irgendwo ein Ausschanktresen oder sonst etwas. Weit und breit kein Mensch — außer Lilith und mir war auf den beiden Passagierdecks niemand zu sehen, und als könnte sie meine Gedanken lesen, hörte ich sie quer durch den leer geräumten Saal sagen, zum Glück seien noch ein paar andere Verlorene an Bord!
Sie zählte sie mir auf:»Käpt’n, Navigator, Lotse — alle auf der Brücke. Unten im Maschinenraum sind Sébastian und Claude, unsere Maschinisten. Und Sie sind hier, und ich bin hier. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen das Eisstadion — das Lastwagendeck.«
«Wir sieben. Und das Schiff«, sagte ich.»Die Kitty gibt es ja auch. Alles, was einen Namen hat, zählt.«
«Stimmt. Noch ist sie da!«
Ihr Walkie-Talkie schnarrte. Sie fragte nach, ob sie irgendwo gebraucht wurde, doch es kam keine Antwort.
«Wahrscheinlich sind wir jetzt einer weniger«, sagte sie.»Gerade dürfte der französische Lotse von Bord gegangen sein. Also doch sieben — wir sechs und die Kitty .«
Die Leere der jedes Geräusch zurückwerfenden Korridore und das durch die nackten Fensterfronten hereinfallende blasse Licht ließen mich mehr und mehr schaudern. Wohin wir auch kamen, überall auf dem alten Fährschiff war es eiskalt, denn eine Heizung gab es an Bord nicht mehr.
«Letzte Woche ausgebaut«, sagte Lilith.»Rausgerissen. Wie die Kombüse, die Fahrstühle, die Fernseher, die Hydraulik der Autodecks und fast die ganze Elektrik.«
Sie zuckte mit den Achseln.
Manchmal sah sie so traurig aus wie Séverine Laudec, doch wie ihre Freundin überspielte sie den Kummer und wischte ihn lächelnd beiseite.
«In meine alte Kajüte hat Claude ein paar Heizlüfter gestellt. Wenn Sie müde sind, können Sie sich da hinlegen. Es gibt eine Koje, ist ganz bequem. Und Essen und was zu trinken. Oder haben Sie Schlaf und Nahrungsmittelzufuhr auch aufgegeben?«
Guck an, ein Sticheln.
Ich sagte, ich würde eine Ausnahme machen.
Noch immer erinnerte sie mich an Ira, allmählich aber gewöhnte ich mich daran, und je länger ich Lilith beobachtete, desto mehr Unterschiede fielen mir auf. Diese Mütze! Wann nahm sie die endlich ab.
Was mir mit jeder Minute mehr zusetzte, war nicht die Vorstellung, zwanzig Stunden in dieser Kälte durchstehen zu müssen. Es war etwas anderes, und ich wusste oder ahnte zumindest, es hatte mit Liliths Frage nach meinen Sachen zu tun. Warum hatte ich nichts bei mir, ich halber Mensch, nicht wenigstens zwei, drei Habseligkeiten?
Hände in den Anoraktaschen, blickten wir bugwärts durch ein Panoramafenster in den Spätnachmittagsdunst über dem Kanal. Es dämmerte. Die Kitty pflügte durch die grauen Wellen, und Lilith redete von Landmarken, den Leuchttürmen, Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen, an denen sie sich seit fünfundzwanzig Jahren Tag für Tag auf der Überfahrt orientierte. Wir folgten der Küste in nordöstliche Richtung. Rechts lag die Seinebucht, große und kleine Frachter waren dort nach Le Havre unterwegs oder kamen von da. Voraus warteten die Klippen von Étretat, die Somme-Mündung, Boulogne und Calais. Der Bessin — viel zu weit weg, von Arromanches oder Caen war nichts zu sehen, und das L’Angleterre nur eine Ahnung, bloß noch Erinnerung. Im Westen aber, viel weiter weg, ein schmaler dunkler Strich knapp überm letzten Funkeln auf dem Meer, lag die Küste von Südengland.
«Da drüben liegt Poole«, sagte Lilith und zeigte hinüber in das Flimmern, sodass ich ihr Profil nah vor mir hatte, ihr Ohr (anders als Iras), ihr Kinn (Iras), die Nase (Iras), ihre Stirn (die mir höher vorkam und die Lilith kaum je in Falten legte). Zum ersten Mal versetzte ich mich in sie hinein, und sofort wurde mir klar, wie verloren einer wie ich mit seinen leeren Händen auf sie wirken musste.
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