«Wollen wir abhauen zusammen?«, rief ich von der Haltestelle hinüber zu ihm.»Wenn du willst, komm mit. Na, Grimsel, was ist?«Aber er reagierte nicht. Auf der Skizze zu einem nicht ausgeführten Gemälde, die Carl Philipp Fohr vom römischen Antico Caffè Greco angefertigt hatte, sah man dutzende Maler, Dichter und Zeichner an Tischen sitzen und im Raum stehen, und zwischen ihnen, fast in der Bildmitte, seinen Hund Grimsel, nur ein paar Bleistiftlinien, ansonsten ganz weiß, als wäre er aus Licht. Als ich im Bus saß und losfuhr, sah ich ihn an der Straße stehen und wie er sich langsam wieder auf den Weg machte, dorthin, wo keiner auf ihn wartete.
In der Stadt ging ich ohne Umwege in die erstbeste Bankfiliale. Ein Automat druckte mir den Stand meines Kontos aus. So erfuhr ich, dass meine Exfrau Saskia mein Studio und die Wohnung weitervermietet, die Einrichtung verkauft und mir dafür eine ordentliche Summe überwiesen hatte. Das Konto aufzulösen, gelang mir nicht. Der Bankangestellte hinter dem Schalter musterte mich entgeistert.
«Ich möchte es nicht mehr haben, es soll verschwinden«, sagte ich hilflos auf Französisch und mitten hinein in sein Kopfschütteln. Schließlich hob ich so viel Geld ab, wie mir gestattet war, und legte EC-Karte und Kreditkarten auf den Schalter.»Machen Sie damit, was Sie wollen. «Der Angestellte schob die Karten zu mir zurück, er verstand keinen Spaß. Ich steckte sie ein und lachte ihn aus.
Die ausgezahlte Summe würde meinen Lebensunterhalt für mindestens anderthalb Jahre sichern. Das Geld in die Anoraktaschen gestopft, trat ich ins Freie. Es nieselte nicht länger, sondern schneite schon beinahe, ein Graupelregen, der mich verdrießlich stimmte und frösteln ließ. Ich ging zurück zum Busbahnhof. In einen Mülleimer warf ich alles, was in meiner Brieftasche steckte, EC-Karte, Kreditkarten, Versichertenkarte, Visitenkarten, Führerschein, Ausweis. Ich nahm das Geld aus der Börse und warf die Börse weg. Als ich im Bus saß, fühlte ich mich erstaunlich leicht. Alle kummervolle Bürde verlor also an Gewicht, wenn man begann, niemand mehr zu sein. Ein Kilo wog vielleicht noch vierhundert Gramm, mehr nicht. Die Fahrt zurück nach Marigny dauerte eine Stunde, und ich nahm mir vor, bis dahin einen Plan zu fassen, was weiter mit mir geschehen sollte.
Ich fragte mich, ob es nicht besser war, wenn ich auch aus Frankreich verschwand, wenn ich über den Kanal setzte und nach England ging, wo keiner, wirklich keiner mich kannte und finden würde. Dort verstand man mich wenigstens. In England konnte ich untertauchen, irgendwo auf dem Land leben, vielleicht an der Küste, wo es im Frühjahr schnell wärmer wurde. Und über mein Wiederauftauchen konnte ich mir auch in Bournemouth, oder wo immer es mich hinverschlug, den Kopf zerbrechen. Außer meinen Schuhen, meiner Kleidung, ein wenig Wechselwäsche und dem Haufen Geld, den ich lose bei mir trug, besaß ich nichts. Das Fahrrad stand in Marigny, ich brauchte es nicht mehr. An Maybritts und Catinkas Fenster stehend, blickte ich in den Schnee, der jetzt im Winter auf die Steilküste niedersank, und sah zu, wie Gras, Sand und Erdboden alle die Flocken aufnahmen und schmelzen ließen. So, genau so war es mit meinen Empfindungen. Pausenlos dachte ich nach über Ira, Jesse, meine Eltern, Juhls, Annik und Lilith, doch kam zu keinem Ergebnis, keiner Entscheidung, nicht mal einem Schluss, sondern machte einfach weiter und begann noch einmal von vorn. Ich war überzeugt, noch wenn ich niemand mehr wäre und gar nichts mehr hätte, nicht mal mehr Kleider am Leib, nackt nur daläge im Schnee und allmählich zuschneite, ich würde noch immer sogar verdrängen, dass es überhaupt kalt war.
Ich lenkte mich ab, indem ich meinen Rückzug vorbereitete. Jeden Tag ging ich durch die oberen Stockwerke und reinigte vier, manchmal sogar sechs Zimmer. Ich harkte das letzte Laub zusammen und räumte das Gerätehaus zu Ende auf. Nachmittags sah ich nach, ob Post gekommen war. Die Abende verbrachte ich in der Bibliothek, aß etwas, spielte Billard oder las eine weitere Story von Hemingway und trank dabei den Weißwein, der nicht weniger werden wollte. Erst wenn wieder zwei der Flaschen leer waren, wankte ich in eines der eiskalten Zimmer.
An einem Tag in der zweiten Dezemberwoche stapfte ich über die Schneedecke im Hotelhof zum Pförtnerhaus und fand im Briefkasten eine Ansichtskarte. Sie zeigte ein Schiff auf dem sommerlich blauen Meer, eine alte weiße Fähre, bei deren Anblick ich augenblicklich an die Insel dachte, von der Juhls kamen.
Doch weder Catinka noch ihre Mutter oder ihr Vater hatte die Karte geschrieben. Sie war von Lilith, und als ich ihre Unterschrift sah, drehte ich mit vor Kälte steifen Fingern die Karte noch mal um. Erst da fiel mir der Name am Bug des Schiffes auf: KITTY.
Dieses Schiff, diese Fähre, hatte ich in Cherbourg nicht gesehen. Die Kitty war viel älter. Und trotzdem hatte fast die gesamte Crew, als sie von Bord ging, diesen Namen auf Hemden, Blusen und Mützen getragen.
Liliths Schrift zu sehen, verwirrte mich noch mehr. Ihre kleinen, sauber gesetzten, fast wie gedruckt wirkenden Buchstaben in schwarzer Tinte ähnelten nicht mal entfernt Iras Handschrift. Woher kannte sie meine Adresse? Sie hatte nur wenige Sätze geschrieben, in jedem aber lag die Zurückhaltung, die mich in Cherbourg so verblüfft hatte, und darum verwunderte mich nicht, dass sie mit einer Entschuldigung begann.
«Lieber Markus Lee!«, las ich mit zusammengekniffenen Augen.»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nachspioniere, aber es war nicht auszuhalten, deshalb habe ich Ihre Freundin Annik angerufen und sie mit Fragen gelöchert.
Jetzt weiß ich wenigstens etwas von Ihnen und verstehe Sie besser. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Vielleicht … kann ich Ihnen helfen!
Es würde mich froh machen, sehr, wenn Sie mich noch einmal sehen wollen.
Lilith«
Die Zimmer im zweiten Stock, die Juhls, Jesse und ich zwei Monate zuvor bewohnt hatten, waren lange gereinigt und von allen Spuren gesäubert. Noch einmal schritt ich durch die Korridorgalerie und betrachtete, ohne es wirklich zu sehen, dieses oder jenes liebgewonnene Bild. Ich wusste, es war das letzte Mal, dass ich allein hier oben war. Die Abschiede begannen.
In meinem früheren, meinem fast gänzlich leer geräumten ersten Zimmer nahm ich das Bild von der Wand über der Heizung. Das Foto von den Zwillingen steckte hinter Glas in einem alten Holzrahmen, dessen einstiger Goldlack fast überall abgeblättert war. Es brauchte einige Zeit, bis sich die Schwarzweißfotografie herauslösen ließ. Ihre vergilbte Rückseite war bis auf ein paar Bleistiftziffern leer.
Ich steckte Liliths Karte in den Rahmen und hängte das Bild von der Kitty an den Nagel über dem Heizkörper. Dabei dachte ich an nichts Bestimmtes, zögerte nicht, zweifelte nicht, wusste genau, was geschehen würde und dass es nicht zu ändern war. Ich ging hinunter in die Lobby. Ich hauchte dem Telefon neues Leben ein. Ich rief die Auskunft an und brachte es fertig, die Adresse des Supermanche-Fährbüros in Cherbourg-Octeville in Erfahrung zu bringen. Sie schrieb ich auf die Rückseite des Fotos, versah meine Karte mit einer Briefmarke aus dem Heftchen, das Maybritt in der Hotelküche liegengelassen hatte, und setzte mich dort an den Tisch.
Ich schrieb:»Aus welchem Grund sollte ich Sie wiedersehen wollen? Jeder Vorschlag ist ein Rückschlag. Geholfen haben Sie mir bereits, mehr, als Sie ahnen. Ich wünsche Ihnen, was ich mir selbst wünsche, Tag und Nacht ein Gespür für das Glück. Sie waren freundlich, Lilith, dafür danke ich Ihnen von Herzen.«
An der Rezeption klingelte das Telefon, obwohl ich keinen Anruf erwartete und nicht vorhatte, mit jemandem zu reden. Bestimmt war es Annik, die mir beichten wollte, was sie alles ausgeplaudert hatte. Ich ging nach oben, zog den Stecker aus der Holzvertäfelung und lauschte dem Verhallen des Lärms, bis es wieder ganz still war. Annik meint es nur gut, sagte ich mir. Maybritt Juhl — sie meint es nur gut. Und genauso Lilith. Alle meinten es gut mit mir, nur ich selbst, ich meinte es nicht länger gut noch schlecht mit mir, sondern meinte gar nichts mehr. Ich setzte mich in die Bibliothek und fing an zu warten, wartete auf den Abend, holte mir Wein und Brot, aß und trank und wartete auf die Nacht, wartete auf den Morgen und den Mittag. Als der Postbote kam, eilte ich hinaus, lief ihm nach über den verschneiten Kiesweg jenseits der Mauer und drückte ihm das frankierte Zwillingsfoto in die Hand.
Читать дальше