Über Nacht in Cherbourg zu bleiben, kam für mich nicht in Frage. Plötzlich stand ich wieder in dem Bahnhof und blickte hinauf zu der großen Uhr. Es war halb neun. Sieben Stunden vergangen! Plötzlich saß ich wieder im Zug. Und mit einem Mal empfand ich alles, was passiert war, als unsagbar peinlich.
Ich schämte mich für alles, was in den vergangenen zwölf Monaten geschehen war, schämte mich für meine Eltern und ihre Fühllosigkeit, schämte mich aber vor allem für mein Unverständnis ihnen und Jesse gegenüber. Der Zug fuhr durch die Nacht. Ich kam wieder durch Carentan. Ich stellte mir Annik mit Serge vor, wie sie am Strand entlangliefen und im Schutz einer Düne miteinander schliefen. Ich schämte mich für Serge.
Und ich stellte mir Jesse mit Margo vor, wie sie im Sand derselben Düne rangelten und irgendwann erschöpft voneinander abließen und in den Nachthimmel blickten. Ich sah Jesse in seinem Jugendzimmer vor mir, in dem Haus, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte und das einmal sein Haus und nicht mehr das seiner Großeltern sein würde. Mit Niels lag er auf dem Fußboden, sie hörten Musik. Unten im Erdgeschoss saßen meine Eltern, sahen fern oder hatten Freunde zu Gast, DeWitts vom Bodensee, Lewandowskis, mit denen sie über den Jungen redeten. Es klingelte, und Jesse kam die Treppe runtergesprungen und öffnete, machte im festen Glauben auf, es wäre Margo.
Aber sie war es nicht.
«Wer ist es denn?«
Meine Mutter rief aus dem Flur. Schon bog sie um die Ecke.
Herein kam ich. Doch ich war nicht allein.
Drei Wochen vergingen. Vorüber zog ein November an der See, grau wie überall nördlich des Meridians. Und ich, im L’Angleterre , weit nördlich davon, was tat ich in der Zwischenzeit?
Nicht viel. Solange die angekündigten Herbststürme ausblieben und es lediglich nieselte, wollte ich Garten, Hof und das Hotel winterfest machen, wie ich es mit Monsieur Flaubert vereinbart hatte. Jeden Morgen, bis die Bäume kahl waren, harkte ich das Laub zusammen, häufte Blätter und Zweige in eine betagte Schubkarre und fuhr alles durch die Pforte auf den Steilhang, wo eine Kompostgrube aus Zement ausgegossen war. Eines Mittags flog lautlos und riesig, keine zehn Meter über meinem staunenden Gesicht, ein einzelner Storch die Küste entlang Richtung Westen. Weil ich Ove Juhls Einsilbigkeit vermisste, zählte ich an seiner statt die Vögel. Kraniche — keine. Reiher — keine. Störche — einer. Auch die Elstern machten sich rar, und selbst Krähen sah ich nur noch wenige in den Schwärmen der Seemöwen, die mir darüber manchmal ebenso verwundert schienen.
So gut wie nichts mehr wuchs in den Beeten. Die Erdbeerblätter wurden gelb und faltig, dann braun, rissig und schließlich stumpfschwarz wie das Erdreich. Im Gerätehaus suchte ich nach Gartenwerkzeugen, fand aber zunächst keine und begann, in der kleinen Werkstatt auszumisten. Im Licht, das durch das Fensterauge und das nur halb zu öffnende Holztor fiel — die andere Hälfte war zugemauert — , entdeckte ich schließlich auch Spaten und Schaufel. Damit grub ich eine Woche lang die im immerwährenden Schatten entlang der Mauer liegenden Rabatten um. Es war meine erste Gartenarbeit seit über vier Jahren, seit ich Ira dabei half, die Magnolie einzupflanzen, die ihr Jesses Pflegeeltern zum zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Ob Lewandowskis Purpurmagnolie noch lebte, wusste ich nicht, aber ich hätte in diesen Tagen viel dafür gegeben, es herauszufinden. Meine Eltern hatten einen Gärtnerdienst mit der Umpflanzung von dutzenden Sträuchern, Stauden und Büschen beauftragt, als sie ihr Haus in Schnelsen aufgaben, um nach Wellingsbüttel in das Haus zu ziehen, in dessen Garage sich ihre Tochter das Leben genommen hatte. In Iras Garten war ich nie wieder gewesen. Herumschaufelnd in den herbstlichen Beeten des L’Angleterre schämte ich mich auch dafür.
In der Novembermitte kamen ein paar Tage, die noch einmal erstaunlich mild waren, weil Südwind die Wolken vertrieb und die Sonne kräftig schien. Ich nutzte die Wärme, um Wände und Fenster der Möwenzimmer zu streichen, und ich freute mich jeder Minute, wenn ich dort oben im Dachstuhl stand, nachdachte und zugleich an nichts dachte und nach Norden auf den Ärmelkanal oder weit südwärts ins Land hineinblickte. Carlo fehlte mir, Maybritts Güte und Fröhlichkeit, das Lachen der Kinder. Die Stille im Hotel, wenn alle in ihre Zimmer verschwanden, war eine andere gewesen. Noch tagelang hatte ich in Maybritts Bett geschlafen, irgendwann aber war sogar ihr Duft verflogen gewesen.
So wie Maybritt Juhl an einem der Möwenzimmerfenster gestanden und mich beobachtet hatte, als ich aus Anniks Wagen stieg, genauso stand ich eines Mittags dort oben, blickte hinunter aufs Kiesbett des Hofs, auf das die Sonne sonderbare Schattenmuster legte, und sah mit einem Mal, dass der schwarze BMW vor dem Tor parkte. Ich ging nach unten, stieg weiter ins Souterrain hinab und fand Annik draußen vor der Küchentür. Sie wartete, begrüßte mich lächelnd mit einem Kuss auf den Mundwinkel. Es war Sonntag, fiel mir ein, der Schrottplatz war geschlossen, und sie hatte frei.
Eine Zeit lang saßen wir in der Küche und tranken jeder ein Glas Perrier. Hübsch sah sie aus, frisch geschminkt, ausgeschlafen. Sie fragte, ob ich mir einen Bart wachsen ließ.
«Ja, vielleicht. «Ich strich mir übers Kinn.»Kommt drauf an. «Ich hatte noch keinen Gedanken an einen Bart verschwendet.
«Worauf denn?«
«Kommt drauf an, ob er weiterwächst, überall, meine ich. Weißt du, mein Bartwuchs hat Lücken, und einen löchrigen Bart will ich nicht.«
Das verstand sie. Sie trank das Wasser, das ähnlich silbern wie ihr Lidschatten und ihre Wimpern funkelte. Ich kannte keine andere Frau mit silbernen Augen. Sie kniff sie zusammen, als sie sagte, eigentlich hätte sie sich denken können, dass mein Bart nicht bloß ein Bart, sondern ein komplizierter Bart war.
«Wollen wir ein bisschen durch die Gegend fahren?«
«Du meinst«, fragte ich,»so wie du und Serge?«
Annik musste lachen, und etwas Perrier rann ihr aus dem Mundwinkel.»Entschuldige … nein — nicht wie Serge und ich!«
Kurz kam ich ins Grübeln, fragte mich, was sie im Schilde führte, ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein, keinesfalls wollte ich über meinen gespenstischen Ausflug nach Cherbourg reden. War sie deshalb gekommen, um etwaige Neuigkeiten über Lilith aus mir herauszukitzeln?
Ich schob die Vorstellung beiseite. Es war schön, sie zu sehen, gut, dass sie zurückgekommen war.
«Du könntest mich auf dem Rückweg in Marigny absetzen. Ich möchte zu gern wissen, ob das Fahrrad noch dort steht oder ob es sich jemand unter den Nagel gerissen hat.«
«Niemand hat es sich unter den Nagel gerissen. Du bist im Bessin. Es steht noch da, ich hab’s gesehen. Und es wird noch in zwei Jahren dastehen, wenn du es nicht abholst«, sagte sie und stand auf. Sie nahm die leeren Gläser und stellte sie in die Spüle.»On y va, M’sieur. Fahren wir ein bisschen rum und hören Musik.«
Tatsächlich, das weiße Fahrrad aus dem Stechginsterbusch lehnte unverändert, wie diesen Morgen dort abgestellt, am Haltestellenhäuschen des Busses, der durch Marigny fuhr. Annik drosselte das Tempo, damit ich es sah und glaubte, kommentierte aber weder mein Staunen noch Schweigen, sondern gab einfach Gas und fuhr weiter.
Schmale Straßen durchschnitten verschlafene Ortschaften, flach im Wind, kaum begonnen, schon wieder vorbei, Dörfer, lang wie ein Gewehrschuss, nannte sie Flaubert — nicht der Schrotthändler, sondern der Schriftsteller. In westlicher Richtung gondelten wir durch den Nachmittag, hörten dabei eine Aufnahme von einem der letzten Joy Division-Konzerte und redeten nicht viel.
Abgesehen von einem Gang zum Briefkasten am früheren Pförtnerhaus war es das erste Mal, dass ich mich seit Cherbourg aus dem Hotel wagte. Unfassbar, wie ich die vergangenen Wochen verbracht, wie wenig ich gegessen, wie selten ich ein Wort über die Lippen gebracht hatte. Eine Songzeile der frühen Genesis hatte mich tagelang verfolgt, als ich das Stück im Radio hörte:»Lilywhite Lilith, she gonna take you thru’ the tunnel of night …«Alle paar Tage sprach ich zwei, drei Sätze mit mir selbst, meistens beim Billard. Es war keiner da, mit dem ich hätte reden können, die Menschen, die ich vermisste, waren weit weg und das Telefon in der Lobby stumm, seit ich es außer Gefecht gesetzt hatte. Als Maybritts Vorräte aufgezehrt waren, ging ich daran, die Speisekammer zu plündern. Seit über einer Woche ernährte ich mich von Knäckebrot aus einer verblassten Großpackung sowie eingewecktem Obst, das in Gläsern schwamm, deren Etiketten irgendjemand beschriftet hatte, als Ira und ich Ende zwanzig gewesen waren und sie noch durch die Welt reiste und ich ihr hinterher.
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