«Wenn du willst, zeig ich dir was«, sagte Annik, kaum dass wir zur N13 kamen, die über Isigny nach Carentan und weiter nach Cherbourg führte.»Sogar Serge kennt es nicht. Hast du Lust?«
Es war eine Wiedergutmachung, ich nickte. Wir würden also Freunde sein. Ich wusste, sie war oft auf dieser Straße gefahren, meist allein, und Serge pendelte noch viel öfter zwischen Carentan und Bayeux hin und her, immer allein, getrieben von Zeitnot und Furcht, dabei ertappt zu werden, dass er ein Doppelleben führte. Im Grunde ist Annik wie du, dachte ich. Sie wartet, ohne wissen zu wollen, worauf. Wüsste sie es, alles würde vor Unerreichbarkeit stillstehen.
Um Longueville machte die N13 einen Bogen. Ich sah abgeerntete Felder, Knicks, um die sich dutzende Krähen und hunderte Spatzen stritten. Wir waren ein Phänomen, Annik und ich, einfach so draufloszufahren und dabei» Decades «und» The Eternal «zu hören. Was wollten mir zwei über dreißig Jahre alte Lieder sagen, die» Jahrzehnte «und» Das Ewige «hießen? Für Jesse war die Düsternis von Joy Division so pathetisch wie die neoromantische Maskerade der frühen Genesis, eine Pose, und ich fragte mich, ob er nicht recht hatte. Weltschmerz schien es in der Welt der heute Fünfzehnjährigen nicht zu geben, zumindest für Jesse Lee war die Unwiederbringlichkeit der Zeit Tatsache. So war es eben, Schicksal!» Schon zwei Wochen gehe ich jetzt wieder in die Schule, es ist so öde«, stand auf der Karte von Catinka, die seit Tagen im Hotelbriefkasten gelegen haben musste. Die Binnenalster war darauf abgebildet, die große Fontäne, die im Sommer die Leute staunen ließ.»Wie geht es dem Meer? Und sind die Grus schon weggeflogen? Margi hat keine Zeit. Papa ist verreist. Mama und ich haben Dich lieb. «Von Niels und Jesse kein Wort.
Annik wollte mir das Grab ihres Großvaters zeigen, des Vaters ihrer Mutter, von dem sie ein paar vergilbte Fotos und Postkarten kannte, ansonsten aber nur seine letzte Ruhestätte auf dem deutschen Soldatenfriedhof von La Cambe.
Die Novembersonne auf dem Gesicht, spazierten wir über das ausgedehnte parkähnliche Areal. Annik kannte den Weg durch die Gräberreihen, jedes Grab ein stumpfes, niedriges Kreuz, das wie eine Zwischenform aus christlicher und reichsdeutscher Symbolik anmutete und mich beklommen machte. Verbunden durch kleine Gehwegplatten, standen hunderte Kreuze in Fünferreihen überall auf dem vergilbten Rasen, soldatisch akkurat noch im Tod, dachte ich angewidert und erschrak schon im nächsten Moment vor meinem bösen Hohn.
Annik bog von einem der gepflasterten Hauptwege auf den Rasen ab. Vor mir her lief sie übers Gras, nicht über die Platten, und erschüttert begriff ich, weshalb. Die Platten waren die eigentlichen Gräber, es waren Grabplatten, eine für je zwei Tote, viele mit Namen, militärischem Rang, Geburts- und Sterbedatum versehen, immer wieder aber war auf einem Stein nur EIN DEUTSCHER SOLDAT zu lesen.
Im Vorbeigehen las ich Namen von mir unbekannten Toten, überflog dutzende, alle mit demselben Sterbejahr 1944.»Wie viele liegen hier?«, fragte ich Annik, die mich aber nicht hörte. Ohne dass ich es gemerkt hatte, war sie schon fast am Ende der Reihe. Ich blickte mich um, sah am Fuß eines Hügels, auf dem drei große Birken standen, ein altes Paar dahinspazieren, doch ansonsten war auf dem ganzen Gräberfeld niemand zu sehen außer Annik.
«Wie viele Tote sind es, weißt du das?«, rief ich ihr zu, als ich näher kam. Lächelnd wartete sie auf mich und zeigte vor sich ins Gras. Ohne einmal falsch zu gehen, hatte sie das Grab gefunden.
«Es sind einundzwanzigtausendzweihunderteinundzwanzig«, sagte sie, als ich vor ihr stand,»kann man sich leicht merken, die Zahl. Einundzwanzigtausendzweihunderteinundzwanzig und mein Großvater. Darf ich vorstellen?«
«Ein deutscher Soldat «war auf der in den Rasen eingelassenen kreuzförmigen Platte zu lesen, doch darunter Dienstgrad, Name, zwei Daten: Gefr. Kreher, Manfred *19.1.25 † 15.6.44.
«Mit neunzehn«, sagte ich nur.
Annik ging in die Hocke und fing an, Grashalme abzurupfen, die über die Platte wucherten.»Meine deutsche Oma ist vor vierzehn Jahren gestorben, in Braunschweig. Sie war achtzehn, als sie meine Mutter bekam. Manfred Kreher hat seine Tochter nie gesehen, aber wenigstens von ihr gewusst hat er. Am Tag bevor er an die Front geschickt wurde, schickte er eine Postkarte aus Paris, auf der er schrieb, wie glücklich er ist. ›Taumelnd vor Freude stehe ich vor der Église de la Madeleine, liebste Käte. Morgen geht es weiter nach Norden, nach Caen, ans Meer!‹ Er war ein großer stiller Junge, sagte meine Oma immer, und dass er Modelle baute und Kapitän werden wollte.«
«Und weiß man, wie er gefallen ist?«
«Ich hatte gehofft, du würdest das nicht sagen. Ich hasse den Ausdruck. «Sie stand auf, nahm meine Hand und zog mich weg. Wir gingen zurück.»Man weiß nichts Genaues. Nur, dass er bei Montmartin getötet wurde, ›südlich Montmartin-en-Graignes‹, aber wie, wodurch? Meine Mutter hat genau das herauszufinden versucht, als sie Mitte der Siebziger herkam. Sie war dreißig und wollte ihre Doktorarbeit schreiben. Tja, daraus wurde nichts. Mein unbekannter Großvater, unser Schicksal. Denn so kam ich zur Welt. In einem Zeitungsarchiv in Bayeux verliebte sie sich — in den Hausmeister.«
«Du bist Tochter eines Hausmeisters? Ist dir klar, was das bedeutet? Ich, der Übergangshausmeister des L’Angleterre , und du, die Hausmeistertochter, sind füreinander bestimmt! Wir sollten keine Geheimnisse mehr voreinander haben.«
«Das würde dir so passen!«Sie ließ mich los, lachte und fing an zu rennen, quer über die Grabplatten im Gras hielt sie auf eine Fünferreihe aus schwarzen Kreuzen zu.
Ich setzte ihr nach, erreichte sie aber erst, als sie aufgab und sich außer Atem hinter der Kreuzreihe auf den Rasen fallen ließ. Das Gras war kalt und feucht, als ich mich zu ihr legte.
«Ausgerechnet du musst kommen und einen Mercedes verkaufen«, sagte sie.»Ist das fair?«
Und ich sagte, es sei Vorsehung gewesen, bestimmt hätten die Toten es so gewollt.»Die Gefallenen! Ich hab mich schon oft gefragt, woher der Ausdruck kommt. Von ›Feld‹, oder? Die Soldaten, die ins Feld zogen und dort starben, das sind die Gefallenen.«
«Als hätte jemand sie gemäht, umgemäht«, sagte sie.
Und ich:»Ja. Der Schnitter. Der Sensenmann.«
«Und wir liegen hier, auf ihren Gräbern.«
Annik sah in den Himmel, der leer war, kühl und hellblau. Die Sonne stand schon sehr niedrig, sie flog auf der Stelle, schien warm und kalt zugleich, und sachte ging der Wind, als schöbe er einen Kinderwagen durch die Bäume.
Mein Kopf lag auf ihrem Bauch. Von unten sah ich Annik an, ihre Brust, ihr Kinn, ihre Nase, ihre Wimpern und Brauen.
Ich sagte, dass ich sie gern zeichnen würde.
«Ah ja? Nackt oder angezogen?«
«Deine Augen, nur die. Ganz nah, wie zwei Autoscheinwerfer, ehe man überfahren wird.«
Sie atmete tief ein und schloss die Augen.»Erzähl mir von ihr«, sagte sie.»Ist Lilith …«
«Nein.«
«… ist sie anders als deine Schwester?«
Als ich Ende November das nächste Mal mit dem Rad nach Marigny fuhr, traf ich den Hund wieder. Als schiene er auf mich gewartet zu haben, folgte er mir müde über die Straßen voller Schlaglöcher. Noch immer flatterten aus den eingetrockneten Pfützen die Spatzen auf. Blieb ich stehen und drehte mich nach ihm um, dann blieb auch er stehen und behielt mich aus sicherer Entfernung im Auge. Und wenn ich weiterging, trottete auch er weiter, ein verlassener, neugieriger, großer hellbrauner alter Hund, der in eine vage Vorstellung von etwas Besserem versunken schien. Rechtzeitig bevor der Bus kam, wechselte er auf die andere Straßenseite, tat, als wäre er nicht meinetwegen gekommen, und setzte sich.
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