«Und, wie gefällt Ihnen unser Disneyland?«
Du hältst ein Glas in der Hand, blickst aus dem getönten Fenster der großen schwarzen Limousine, nichts Neues zu sehen auf diesen Straßen.
Du bist müde und seltsam wach zugleich und nimmst all die Lichter und Bewegungen um die Limousine herum gar nicht mehr wahr, du bist längst ein Teil dieses Stroms geworden.»Woher können Sie so gut …«
«Mein Großvater liebte die deutsche Sprache«, sagt die weißhaarige Dame,»er hat für die deutsche Botschaft gearbeitet, vor sechzig Jahren. Die alte Achse, wenn Sie verstehen.«
«Die alte Achse«, sagst du,»Berlin, Tokio …«
«Berlin, Rom, Tokio«, sagt die weißhaarige Dame,»Großvater hat mich auf eine deutsche Schule geschickt. Die deutsche Kultur hat mich immer interessiert. Hölderlin, Brecht …, die Ode an die Freude. Mozart. Großvater war ein sehr gebildeter Mann. Ich habe viele deutsche Bücher gelesen. Ich habe viele Jahre einen deutsch-japanischen Club geleitet. Wir haben uns jede Woche getroffen. Bis heute treffen wir uns und reden und lesen.«
«Ein deutsch-japanischer Club«, sagst du.
«Gekommen ist der Maie, / Die Blumen und Bäume blühn, / Und durch die Himmelsbläue / Die rosigen Wolken ziehn. «Sie bewegt die Arme, die Hände vor ihrer Brust, während sie rezitiert, und ihre Stimme klingt viel höher, fast wie ein fließender Gesang, so dass es dir einen Augenblick scheint, eine andere alte weißhaarige Dame würde vor dir sitzen.»Die Nachtigallen singen / Herab aus luftiger Höh, / Die weißen Lämmer springen / Im weichen grünen Klee.«
«Sehr schön«, sagst du, aber sie ist noch nicht fertig.
«Ich kann nicht singen und springen, / Ich liege krank im Gras; / Ich höre fernes Klingen, / Mir träumt, ich weiß nicht was. «Sie neigt leicht den Kopf und lächelt.»Wirklich, sehr schön«, sagst du noch einmal.
«Heinrich Heine. Mein Großvater liebte dieses Gedicht. In Ihrer Stadt, Kraushaar-San …, wie arbeiten Sie da?«
«Wie wir arbeiten …«, sagst du und hebst langsam dein Glas, bis es kalt deine Unterlippe berührt, aber du trinkst nicht. Ihre Stimme immer noch in deinem Kopf. Die weißen Lämmer springen.
«Kabukichō«, sagt die weißhaarige Dame,»wir leben in einem Land voller Huren.«
«Wir leben in einem Land voller Huren«, sagst du.
«Sind Sie vorher schon einmal in Japan gewesen?«
«Nein«, sagst du.
«Vor langer Zeit gab es hier ein Theater. Deswegen der Name, Kraushaar-San. Kabuki. Es gab dieses Haus wirklich, vor über fünfzig Jahren, auch wenn wir es vergessen haben. Später kamen die Yakuza hierher. Aber ich mag diesen Namen nicht.«
«Die Yakuza«, sagst du.
«Nein«, sagt die weißhaarige Dame und lächelt,»ich bin kein Yakuza. Und ich nenne sie lieber Gokodu. Nicht viele Straßen weiter beginnt McDonald’s. Kabukichō stirbt langsam. Die Grenzen verschieben sich. Unsere eigenen jungen Leute haben keinen Respekt vor den alten Geschäften.«
«Ihr Deutsch ist exzellent«, sagst du.
«Sie sind sehr freundlich, Kraushaar-San.«
« Sie sind sehr freundlich«, sagst du,»wie darf ich Sie ansprechen.«
«Mein Name ist Sansori«, sagt die weißhaarige Dame,»so würden Sie es sagen, in Europa.«
«Wie haben Sie mich gefunden, Frau Sansori«, fragst du.
«Was spielt das für eine Rolle«, sagt die weißhaarige Dame Sansori und lächelt. Du blickst auf ihre kleinen Zähne, die fast so weiß wie ihr Haar sind.»Ich wollte Sie gerne kennenlernen, Kraushaar-San. Wir arbeiten in derselben Branche. Sie hatten Probleme mit ihrem Geschäft?«
«Es gab gewisse Meinungsverschiedenheiten«, sagst du.
«Meinungsverschiedenheiten. Ein sehr schönes deutsches Wort. Jemand kam mit einem Schwert aus dem Dunkel? Und Sie waren zwischen den Welten?«
«Ich weiß nicht, wo ich war«, sagst du.
«Das ist alles sehr einfach«, sagt die Dame Sansori,»Sie waren zu Gast in Hakone, jetzt sind Sie zu Gast in Tokio. Damit Sie zurückkehren können in Ihre Stadt. Willkommen, Kraushaar-San. «Sie neigt leicht den Kopf. Und auch du neigst leicht den Kopf.»Sie sagten Gokodu …«
«Das ist jemand, der seinen Weg sucht, Kraushaar-San.«
«Sie können gerne Arnold sagen.«
«Hat es Ihnen nicht gefallen in Hakone, Arnold-San?«
Du antwortest nicht. Die Dame Sansori schenkt sich Whisky nach und nimmt mit einer silbernen Zange Eiswürfel aus einem Fach des Barkastens, die sie in ihr Glas fallen lässt.»Bedienen Sie sich, Kraushaar-San. Das ist der beste japanische Whisky. Eine Unsitte, dass die jungen Leute nur amerikanischen oder schottischen Whisky trinken in Japan. Trinken Sie japanischen Whisky in Deutschland?«
«Ich wusste nicht …«
«… dass wir sehr guten Whisky haben in Japan?«Liegt es an ihrer tiefen, weich und doch rau klingenden Stimme, dass du dich so ruhig und vollkommen gelassen fühlst? Als würdest du seit Stunden mit ihr in dieser Limousine durch die Nacht fahren. Und könntest weitere Stunden einfach hier sitzen. Wenn die Dame Sansori» Japan «sagt, dehnt sie das letzte A dieses Wortes, ein langes, sekundenlanges A nach dem ersten kurzen. Japaaan.
«Unsere Welt ist anders. Ein anderer Stern. Ein lautes ›Ja‹ bedeutet: Nein. ›Vielleicht‹: Niemals. Sie haben sicher viele Fragen, Kraushaar-San.«
«Ich weiß nicht. Vielleicht nur eine. «Du hörst dich sprechen und weißt plötzlich nicht, wie viel du schon erzählt hast und wie viel du schon gefragt hast und wie viel sie schon gefragt hat und wie viel sie schon erzählt hat. Der Strom ihrer Worte.
«Es ist eine alte Tradition«, sagt die Dame Sansori,»wie bei Ihnen auch. Es war mein Weg, dass ich mich dieser Tradition angenommen habe.«
Und wieder wunderst du dich, wie nahezu perfekt ihr Deutsch ist. Die alte Achse. Wer hätte das gedacht. Großvater Adolf. Und draußen, vor den getönten Scheiben des Wagens, werden die Straßen jetzt dunkler, du erkennst Hochhäuser am Rande der weitläufigen Fußwege, spärlich beleuchtete Türme, weite, freie Flächen zwischen ihnen, dann wieder Stein und Glas in seltsamen Ballungen, die Lichter einer Hochstraße, grüne, rote Ampeln, dann wieder stille Straßen, weite Wege, die Nacht scheint hier jetzt Nacht zu sein. Sitzt noch ein zweiter Mann neben dem Fahrer? Du kannst es nicht erkennen hinter der Trennwand, in deren Mitte sich ein kleines ebenfalls getöntes Fenster befindet.
«Die Gesetze, müssen Sie wissen, Kraushaar-San, verbieten den Verkehr. Verzeihen Sie mir meine offenen Worte, aber so sagt man doch …, für Geld, Kraushaar-San. Hier in Japan.«
«Sie möchten etwas erfahren, über unsere …, meine Geschäfte.«
«Sie sind sehr kultiviert für einen Gaijin, Kraushaar-San. Ich mache Scherze. Ich bin eine alte Frau.«
«In meinem Land sind diese Dinge, von denen Sie sprechen, auch nicht so einfach. Aber es gibt auch dort Wege für diese alte Tradition. «Auch im Inneren des Wagens scheint es dunkler geworden zu sein, aber die gelben Lämpchen direkt über den Türen leuchten immer noch.
«Gokodu«, sagt die Dame Sansori und nickt.»Die Menschen bei Ihnen würden es sicher nicht mögen, wenn sie uns hören, wie wir sprechen.«
«Nein«, sagst du,»würden sie nicht. Und bei Ihren Geschäften, Frau Sansori …?«
«Wir sind ein Land voller Huren.«
Hat sie das nicht schon vorhin einmal gesagt, überlegst du. Ihre Lippen sind sehr schmal jetzt, ihre dunklen Augen mustern dich. Sie nimmt eine Zigarette mit einem langen weißen Filter, zündet sie an, und du denkst, dass es sehr elegant aussieht, wie sie raucht.»Verzeihen Sie meine Worte, Kraushaar-San. Ich bin eine alte, harte Frau.«
«Das kann ich nicht beurteilen«, sagst du nach einer Weile, weil du nicht weißt, was du sagen sollst.
«Doch, das können Sie gut, denn Sie wissen, wer ich bin. Was ich bin. Sie verstehen die Dinge, Kraushaar-San. Deswegen sind Sie hier. Und deswegen spreche ich mit Ihnen. Und deswegen sprechen Sie mit mir.«
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