Eine Frauenpuppe in einem blauen Kimono klagt laut und singt laut, beugt sich, verbeugt sich. Legt die Hände an ihre Brust, legt die Hände an ihre Haare. Irgendein Unglück muss passiert sein, denkst du. Und dann denkst du, dass du deine Frau noch nicht angerufen hast, seit du hier bist, in diesem Land bist, aber dann spürst du, dass es dir egal ist. Dann denkst du an deinen Sohn, aber auch das ist fern und berührt dich nicht. Und war in all den Tagen, die du durch diese Stadt gewandert bist, nicht bei dir. Und je länger du ins Halbdunkel der Halle starrst, erkennst du auch andere Zuschauer, die auf Matten hocken, je länger du auf das Spiel der Puppen starrst, umso mehr verstehst du die Geschichte. Ein Vater und ein Sohn. Die Geliebte des Sohnes. Der Vater will, dass er sie verlässt. Der Vater ist wohl ein angesehener Samurai. Der Vater der Geliebten des Sohnes gehört zu einem anderen Clan. Ein Krieg, eine Fehde. Die alte Geschichte, denkst du. Die Geschichte der Welt. Jede der großen Puppen hat mehrere Führer, die in einer vollkommenen Abstimmung die Glieder der Puppen bewegen. Und nur die Gesichter derer, die die Fäden der Köpfe führen, sind zu sehen. Helle Gesichter zwischen dem dunklen Stoff. Du spürst eine große Müdigkeit. Sich einmal nur ausruhen, sich einmal nur hinlegen. Die lauten Gesänge, der Chor der Stimmen von der anderen Seite des Raumes. Gitter kannst du keine mehr erkennen. Dein Kopf sinkt langsam auf die Brust. Du spürst ein Ziehen in deinen Beinen, ein Ziehen in deinen Armen, wie viele Tage und Nächte bist du ohne Schlaf gewandert. Du erinnerst dich an Hakone, diesen seltsamen Landstrich irgendwo auf der Insel, irgendwo in der Nähe dieser riesigen Stadt, erinnerst dich an deine Angst vor der Dunkelheit des Schlafes, wenn du in dem Haus aus Holz und Papier lagst. Die leisen Geräusche eines fremden Waldes, in den du nachts manchmal gegangen bist, Bäume wie große Farne, manchmal schneite es, und du hast dich gewundert, warum diese Farne auch im Winter ihre Blätter behielten, vielleicht eine Art fernöstliche Tanne, wie grün sind deine Blätter , der Mond manchmal über dem Wäldchen, wenn der Himmel klar war, die Sterne in einer Ordnung, wie du sie nicht kanntest, du hast manchmal am Ufer des Sees gestanden, in deiner Stadt, an deinem Haus, mit einer alten drehbaren Sternenscheibe, die du vor vielen Jahren im Astronomie-Unterricht benutzt hast, hast den Fuhrmann gesucht und Perseus und den Großen Walfisch, und in dem kleinen Wäldchen legst du den Kopf in den Nacken und denkst, dass die Welt eine andere ist inzwischen, du trägst einen weißen Kimono, als wärst du schneebedeckt, aber du frierst nicht, gehst ein paar Schritte zwischen den Bäumen, blickst in die Schatten, wenn der Mond da ist, blickst in die Dunkelheit, wenn der Mond nicht da ist, der Schnee gibt immer ein wenig Licht, als würde er den Tag speichern, du stützt dich auf deinen Stock, manchmal hörst du leise Stimmen zwischen den Bäumen, aber du weißt, dass da niemand ist, du gehst weiter in den Wald hinein und weißt, dass du nur deinen Spuren folgen musst, um zurückzukommen, auch wenn es schneit, ist der Weg nicht weit, ein Reim ein Reim, ein Königreich für einen Reim , Matthias Reim, Verdammt ich lieb dich , und du lachst laut und würdest dich nicht über ein Echo wundern, aber dein Lachen verschwindet im Schnee und zwischen den Bäumen.
Einmal hast du einen Hasen gesehen, einen grau-weiß gesprenkelten Hasen, du siehst diesen Hasen wieder im Käfig des»24-Hours-Pet-Shop«, er saß in der Mitte einer kreisrunden Lichtung, kaum zu erkennen auf dem Schnee, der Mond war da, und der Mond war nicht da, er kam dir groß vor, dieser Hase, anderthalb Ohren hatte er nur, abgefroren, abgebissen, und deswegen hast du ihn wiedererkannt in dem Käfig des»24-Hours-Pet-Shop«, was hast du nur mit den Tieren in diesem Land, auf dieser Insel, denkst du, ein Ausflug in den japanischen Zoo, aus dem du den Ausgang nicht findest.
Der Vater verstößt seinen Sohn und klagt und weint und singt dann von seinem Leid. Während der Sohn im Schatten steht und ein Schwert in beiden Händen hält. Und dann in der Dunkelheit verschwindet. Wohin geht er? Du berührst die Blätter der großen Farne. Die Mutter, zumindest denkst du, dass es die Mutter ist, rennt zwischen Vater und Sohn hin und her, singt hoch und kreischt fast, und du hörst ein Lachen aus den Reihen der Zuschauer, während die Krieger aufmarschieren. Ein Hügel inmitten des Waldes. Nur zwei oder drei verkrüppelte Bäume dort oben. Dein Atem dampft weiß in der Nacht, während du, auf deinen Stock gestützt, über den knirschenden Schnee schreitest, vor den drei Bäumen stehenbleibst. Der Hügel ist nicht besonders hoch, aber du kannst die Umrisse deines Hauses, des Gästehauses, erkennen. Weit hinter den Bäumen. Und die etwas höheren Häuser des Anwesens, in dem der Mann aus Hakone dich als seinen Gast begrüßte. Ehrengast. So leicht sagt sich das in deiner Sprache. Einmal hast du gesehen, als du durch eines der Fenster blicktest, wie er sich mit einer Lupe im Auge über einen Tisch voller winziger glänzender Steine beugte. Du hockst dich hin und presst die Hände in den Schnee, hältst ein paar winzige Flocken zwischen deinen Fingern gegen das Mondlicht. Zwei Nadelbäume und ein halbverdorrter Farn.
Die fächerförmigen großen Zweige und Blätter sind gelb, Zweige oder Blätter mit kleineren Blättern wie die breite Klinge eines Messers. Du erinnerst dich, dass du einmal (oder mehr als einmal, so genau ist deine Erinnerung nicht) im botanischen Garten deiner Stadt gewesen bist. Als du ein Kind warst. Hast du da nicht irgendwelche Früchte gesucht, von Pflanzen, exotischen Pflanzen, von denen du geträumt hast? Oder gelesen. Hast harte, holzige Knollen in deinen Rucksack gepackt. Und ein paar weiche, überreife Früchte, die du nicht kanntest? Aber was kanntest du schon und wusstest du schon in dieser Vergangenheit unter den vergangenen Sternen. Und da musst du wieder lachen und siehst den Hasen mit den anderthalb Ohren am Fuß des Hügels. Grün und erdig wie ein riesiger Frosch. Und schnell ist der wieder weg, weil ihn dein lautes Lachen in dem stillen Wald erschreckt hat. Denkst du. Und hast du nicht vor Farnen gestanden, den roten oder blauen Campingbeutel auf dem Rücken, die dich an große Brennnesseln erinnerten und die du nicht anzufassen wagtest. Und nun stehst du hier und lehnst dich an den toten Baum, zwischen den verkrüppelten Nadelbäumen. Du hast nie viel von den großen Erklärungen gehalten. Nachts in diesem Wäldchen sind deine Erinnerungen seltsam klar. Dein Freund Steffen hatte immer irgendwelche Sprüche parat. Aus seinem» Hagakure «oder den Plaudereien des Buddha, du hast all seine Bücher fast vergessen, obwohl es noch nicht lange her ist. Und hat er dir nicht eins geschenkt zum Abschied? Und war doch auf die Kariere bedacht, wie alle anderen. Wenn es ums Geschäft ging. Hat vom Weg des Samurai geschwafelt und ist dann doch gegangen, weg aus der Stadt, weg von dir, den Weg der Engel, aber du hast ihn gemocht.
Wenige Leute um dich herum, mit denen du reden konntest. Weil er gewusst hat, dass man die Straße verlassen muss.»Ja, ja«, sagst du laut, sagst du leise und denkst dir, dass der alte Farn noch nicht ganz gestorben ist, weil die verkrüppelten Nadelbäume ihm zumindest etwas Schutz gaben hier oben. Hier und da noch einige grüne Blätter an den großen gelben Fächern des Farns. Ob dein alter Freund Steffen weiß, dass du hier bist? Aber woher sollte er. Du selbst weißt es ja nicht einmal richtig. Du steigst von dem Hügel herab und rutschst ein paarmal aus und setzt dich auf deinen Arsch. Scheiß Kimono. Wenig Stoff über deinem Körper. Du greifst links und rechts in den Schnee.
Deine Arme schnellen in den Raum. Auf ebener Erde hockst du, und es treibt dich nach oben. Reißt dich an deinen Gliedern nach oben. Und du drehst sich um und suchst die dunklen Gestalten, die du doch erkennen müsstest in dem plötzlichen, gleißenden Licht. Und Musik dringt in deine Ohren, dringt in deinen Kopf. Frauen vor dir. Eine große Gruppe von Frauen tanzt in seltsamen Mustern durch die Mitte des großen Raums. Dieses ungeheuren Raumes, an dessen Wand du eben noch gesessen hast. Oder befindest du dich in einem anderen Raum? Die Gesichter der Frauen sind weiß geschminkt. Sie tragen Lederhalsbänder in verschiedenen Farben. Du tanzt mit ihnen und weißt nicht, warum, und weißt gar nichts. Hörst ohne Gedanken in deinem Kopf die Rufe der Zuschauer. Und synchron verschwinden die Slips der Frauen, und du siehst ihre Schwänze, kleine, große, dunkelhäutige, hellhäutige, die zwischen den Beinen der Frauen hin und her schwingen ( Moment, Moment, so groß sind die nicht! ). Und als ob eine Vakuumpumpe (Marktschreier 1: Schwäääänze, große Schwänze! ) dich durch den Raum saugt, taumelst du fremdbestimmt durch dieses verrückte Tanzorchester hindurch. Du hockst, du stehst. Glieder und Schwänze in deinem Gesicht. Zwei kleinwüchsige Frauen klammern sich an deine wunden Beine. Zwerginnen, deren Köpfe an deinen Gürtel schlagen. Du reißt eine Tür auf und stehst auf der Straße, suchst nach deiner Sonnenbrille in den Taschen deines Mantels, in den Falten deines Kimonos. Denn Strahlungen verbrennen deine Netzhäute, deine Augenhäute. Du legst den Kopf in den Nacken und siehst eine vielfarbige Sonne über den Häusern, du taumelst in die Gasse hinein, eine Hand berührt deine Schulter, du willst dich nicht umdrehen, Schneeregen legt sich auf deine Lesebrille, aber du hast doch noch gar keine, verdammt nochmal .»Bleib bei uns in den Schatten, großer Mann. «Und du rennst.
Читать дальше