Ecki sitzt im» Toten Eisenbahner«, oberhalb der Treppe, die zu den Bahnsteigen führt. Register:
Frank ist da, abziehen! Nee, mich zieht Reiner ab! (Nichtmal beim Skat.) Wenn’s mal was zu lachen gibt! Reiner sitzt ganz hinten am Tresen und trinkt Schnaps. Der Erste, sagt er, ist schon fünf. Verzeihung, der Herr, der Friseur ist gegenüber. Bernd ist da, die Steinfresse ist da, den kennt keiner und niemand, der sitzt nur rum seit zehn Jahren. Stasi, oder was, ehemalig? (Geflüster: Frank, Reiner, Bernd sind diskret. Ecki auch.) Oder im Stein? Kiste, Knast, Café Viereck. Also gewesen, anno danno. Stein macht schweigsam. Und Stasi meschugge? Biste aus Berlin, oder was? Burg, Bunker, blauer Sarg. Was hat’n das jetzt damit zu tun? In eine Kanne Bier im» Toten Eisenbahner «passen zwei Liter.
Wenn wir heute nicht rauskriegen, warum die Steinfresse nie einen Ton sagt …
Musste nicht weiter, Ecki?
Hauptsache heiter. Sterben muss ich.
Ecki geht über den Naschmarkt und lacht. Weil er nicht genau weiß, warum der Naschmarkt Naschmarkt heißt, und weil er immerzu ans Naschen denkt und weil’s noch einen Neumarkt gibt, und ans Geldziehen und an den» Toten Eisenbahner«. Und weil er riesige Farne sieht, die in den kleinen Gassen wachsen. Die brechen aus dem Boden und wachsen am Stein empor. Donnerstag. Da denkt er ans Donnern. Bumsen. Und die U-Bahnen rumpeln unter seinen Füßen. Gleich hinterm Naschmarkt ist auch der Marktplatz. Wie heißt der» Eisenbahner «wirklich?» Gleisbar 8«? Oder» Bahnhofsbar Gleis 8«? Komisch, dass man nicht mehr auf das Schild achtet, dabei leuchtet das den ganzen Tag, auf dem Zentralbahnhof ist’s immer irgendwie dunkel. Obwohl sie den generalüberholt haben vor über zehn Jahren mit viel Glas. Nee, muss noch länger her sein. In den Rundbögen sitzen Flugechsen. Das Pech war, dass Ecki in die Wechseljahre kam, als der Zentralbahnhof umgebaut wurde. Hatte er andere Sorgen nämlich. Was erzählst’n da für Sachen? Ecki nimmt sich zusammen, als er durch die Rathausarkaden läuft, am Tabakladen vorbei. Er hat aufgehört zu rauchen, das ist nicht komisch. Das kann keine U-Bahn sein, denn die ist doch noch nicht fertig. Im Bau. Quizfrage: Wer hat schonmal gebrummt? Wer lügt, zahlt die nächste Kanne. Und wie willste das rauskriegen, Direktor Detektor?
Also ich nicht! (Frank, Bernd, Ecki) Reiner sagt: Das wisst ihr doch, vor achtundzwanzig Jahren, wegen der Stasi.
Nee, ist mir neu, hast du noch nie erzählt, ich werd meschugge! (Erzähl doch mal!) Ecki notiert sich für später die Frage, ob Mister Orpheus oder der Mann hinter den Spiegeln schonmal gesessen haben. Nee, bestimmt nicht. Das sind Geschäftsleute, bescheuerte Vorurteile, da kannste genauso den großen A von der großen Bank fragen. ABC, die Katze liegt im Schnee. Die Farne werden immer größer unter der Glocke.
Am Gleis 8 fahren die Züge nach Berlin. International Congress of the Eroscenter. Wenn’s mal was zu lachen gibt. War aber kein Brüller. Da hat er kurz geträumt in der Kantine. Im Sekundenschlaf flimmern die Abkürzungen vor seinen Augen. Ecki arbeitet bei der Versicherung, dieser großen, da hängt auch die LB mit drin , nee, keine Krankenkasse, also nicht direkt. Seriöse Sache. Da kann man kein Knastologe sein . OV, OV / ist genauso gut wie GV! / GV, GV / jetzt wollen alle AV! Abschnittsbevollmächtigter, oder was?
Die Lautsprecheransagen sind gut zu hören, wenn man bisschen leise ist. Da stellen sie sich vor, wohin überall sie fahren können. Paris. Grad mal acht Stunden. Moulin Rouge. Donnerstag ist ein guter Tag. Rennt doch letztens dieses Mädchen, das immer drüben am Seiteneingang stand, wo’s in die Dunkelheit geht, zum Zug nach Paris und rennt mich fast um dabei, wo ich aus dem» Eisenbahner «komme und nur mal gucken will. Der geht doch aber nicht direkt . Umsteigen in FFM. Faustfick machen sie jetzt alle.
Donnerstag ist ein guter Tag. Am Freitag kommen die Wochenendrammler. Im» Eisenbahner «wissen sie genau, wo er hinwill, jeden Donnerstag, aber er sagt’s trotzdem nicht, obwohl sie diskret sind im» Toten Eisenbahner«, roter Mund hat Wahrheitsschwund , Moni mit den Kirschlippen, überhängend die Inneren, in der 3 links. Drüben im Haus X. Wo sie den jeweiligen Service mit Filzstift auf die Wohnungstüren geschrieben haben. Und die Steinfresse sagt kein Wort seit zehn Jahren. Die LB ist fast pleite.
Doch, der hat mal was gesagt, vor zwei Komma drei Jahren, jetzt fällt’s Ecki wieder ein, hab schon fünf, ist erst eins. Und Reiner hat die Steinfresse angeschrien, Am Gleis 8 steht zur Abfahrt bereit … , dass der ihn persönlich, Café Viereck, das hat Ecki so vorher noch nie gehört, als Beschreibung, Ort und Zustand, und musste auch kurz drüber nachdenken, dabei dachte er, dass er all sowas kennt, hat ihm doch mal der ehemalige Fleischer in seinem Club, in den er so gerne gegangen ist und so lange gehen wird, bis der oder bis er …, und weil der ihm doch mal das Lexikon der Knastsprache über den Tresen gereicht hat, denn der hat natürlich auch nie gesessen, denkt Ecki und weiß es fast und eilt vom Naschmarkt zum Bahnhof und weiter, immer weiter. Und meistens zu Fuß, weil er doch was trinken muss und sich überzeugen will, dass die Farne noch da sind, dass die immer noch aus den Schichten unterm Asphalt brechen, die Mykose ist seit mehreren Jahrzehnten ausgerottet, keiner pinkelt mehr Schleim und Blut, aus den holzigen Stängeln der Farne tropft der Kautschuk in die dort festgezurrten Kannen.
Hast du das gelesen, da gibt’s jetzt eine, die bietet AO an, was’n das, alles ohne oder was? Ja. Kann nur ’ne Verrückte sein. Die Augen der Frauen glitzern wie Diamanten. Frische Luft macht frisches Blut. Er lutscht einen Fisherman’s Friend.»Girlfriend-Sex«, sagt das Inserat. Der verspätete Intercity zur Weiterfahrt nach Hamburg … Nur meine Freunde nennen mich Ecki! Nur bisschen Regelblut.
Und Reiner wollte einen Bergmannsstollen in die Steinfresse reinschlagen, weil der plötzlich und auf einmal Major war, und wenn einer zehn Jahre nichts erzählt und nur einen Finger hebt, wenn er ein Bier bestellt, da möchte man schonmal reingucken, hinter den Granit. Ach, geh doch rüber zum Friseur .
Eckbert, was für ein schöner Name und was für ein schöner Mann …
Abziehen ? Nee, mich nicht. Und das sind eh nur noch Legenden aus einer fernen Vergangenheit. Aber ich bin ja sowieso großzügig, mehr so Gentleman, also so seh ich mich selbst, würde mich schon als Gentleman bezeichnen, als großzügig, auch so in meiner Art, alte Schule vielleicht, würd ich sagen. Ausziehen .
Unter Eckis Füßen rumpelt’s. Und da ist immer noch und schon wieder Donnerstag. Naschmarkt. Null Komma neun Promille. Plötzlich ist er ganz allein. Er kann seit einer Weile nicht mehr verstehen, was da passiert in der schwarzen Stadt. Wundert sich aber auch über gar nichts mehr. Sieht, wie sich der Riesenleib erst hinter den Häusern und dann über den Boulevard bewegt. Na klar. Da sind die alle hingerammelt. Weil sie gucken wollen. Und erinnert sich, wie sie das am Morgen im Radio angesagt haben . Ihr hört zweiundneunzig Komma … Die Frauen wurden mit Hilfe eines ausgeklügelten Bondage-Systems aneinandergebunden, immer dichter, immer höher, Hunderte Frauen, mehr als fünfhundert um circa genau zu sein, und mehr noch und mehr noch, weil Gastdemonstrantinnen aus ganz Deutschland sich mit einbinden lassen, Völker, schaut auf diese Stadt! , die meisten der Einheimischen wird er kennen, bis sie in diesem Riesenkörper vereint sind. Und der marschiert nun los. Wenn sonst nichts los ist. Der Weihnachtsmarkt ist seit Wochen abgebaut.
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