Er wirft seine Zigarette auf die Gleise. Er stößt den letzten Rauch aus, beobachtet die Frau mit dem Kinderwagen, sonst ist nicht viel los auf dem Bahnsteig. Nur vereinzelt stehen sie vor den Fahrplänen und Bänken. Es ist düster zwischen den eisernen Bögen, das Nachmittagslicht kommt kaum durch das schmutzige Glasdach. Er blickt auf seine Breitling, sieht, wie die Frau fast synchron ihren Ärmel hochschiebt und sich dann ein Stück über die Bahnsteigkante beugt und in beide Richtungen blickt. Sie sieht ihn, schnippt die Zigarette weg und lächelt. Na, Mädchen, denkt er, ich könnte dein Vater sein. Das ganz junge Blut reizt ihn nicht mehr. So zwischen dreißig, fünfunddreißig und vierzig muss eine Frau schon sein, damit sie ihn interessiert. Gibt natürlich auch Ausnahmen. Seine Frau, mit der er nicht verheiratet ist, ist fünfundvierzig und sitzt in seiner Residenz in der Nähe von Osnabrück. Keine Kinder, keine Frau. Das ist seine Maxime seit fast … dreißig Jahren? Er zündet sich noch eine an. Obwohl er die Raucherei runterfahren will. Jetzt sagen sie den Zug endlich an. Fast pünktlich.
Wo die wohl hinwill? Definitiv keine Ostpocke. Damit hat er Erfahrung inzwischen. Scheißegal. Er muss sich konzentrieren. In zwei Stunden muss er klar sein. Er hat nicht viel Gepäck mit, rechnet mit ein, zwei Tagen. Er hatte kurz überlegt, Artillerie mitzunehmen. Die Grenze ist ein dunkler Ort, ein wildes Land, Nebel über dem Fluss und tiefe Wälder auf der anderen Seite, Urmenschen, auch sechs Jahre nach der Wende. Aber man muss damit rechnen, kontrolliert zu werden. Er hatte zwar eine Waffenbesitzkarte und auch einen Waffenschein, den hatte er sich in Osnabrück ausstellen lassen, Anfang der Achtziger, da hatte er gute Beziehungen in der Politik und den Ämtern, er war damals oft in Hamburg, geschäftlich, und da begann es Mitte der Achtziger, ziemlich heiß zu werden, dunkle Tage, dunkle Nächte, Nebel vom Meer. Das war zwar nichts im Vergleich mit dem Wahnsinn, der Anfang der Neunziger durch die Städte zu rasen schien, wie eine Seuche aus Gier und Gewalt, aber was kann man schon wissen, neunzehnhundertsechsundneunzig, auch wenn man die Zeiten und Menschen zu kennen glaubte. Er weiß gar nicht, ob der Schein für seine Knarre überhaupt noch gilt. Er schmeißt seine Kippe auf die Schienen, sieht den Zug ein Stück weit weg noch, Schienen und Häuser und der Himmel, der immer grauer wird. Vielleicht ist’s auch ein anderer Zug, für einen anderen Bahnsteig. Er sieht die Kippe zwischen den Schwellen qualmen. Aber er will ja eh weniger rauchen. Die achte heute, er zählte neuerdings mit. Er spürte noch die sechs Whiskys, die er mit seinem Bekannten Mondauge getrunken hat, der eigentlich fast ein Freund ist. Ein guter sogar, wenn er länger drüber nachdenkt. Sechs Whisky, sechs Davidoff Filter. Er schüttelt sich, schließt kurz die Augen, sieht die Lichter des Zuges durch die geschlossenen Lider, der aus dem trüben Nachmittag quietschend und zischend auf dem düsteren Bahnsteig einfährt, hört wieder die Stimme aus den Lautsprechern, seltsam verzerrt, kaum zu verstehen, und die Augen seines Freundes schimmern im Dunkel der Bar, die erst am Abend wieder öffnen wird.
Er hatte nie so viel mit ihm zu tun gehabt, aber jetzt fühlt er sich ihm seltsam nahe, will ihn um Rat fragen, wegen seiner Reise, lässt es aber dann. Manchmal fragt er sich, warum er nicht nach Berlin gegangen ist, warum er nichts in Berlin am Laufen hatte, also nichts Großes, aber irgendwie war das nicht seine Stadt. München, Neuss, Bielefeld, der Ruhrpott, Hamburg, da fühlte er sich sicher. Meistens. Und auch jetzt in der Stadt im Osten, seiner neuen Zweigstelle, seiner Dependance seit ein paar Jahren. Aber Berlin, diese große, zerrissene Stadt, die ihm jetzt noch größer und zerrissener erschien …»Mondauge«, sagte er,»wir leben in seltsamen Zeiten.«
«Die Zeiten sind doch immer seltsam. So oder so. Weißt du, dass mich nur noch meine Alte so nennt.«
«Ich denke manchmal, wir sollten alle unseren Kram packen und nach Südamerika verschwinden.«
«Und den mongolischen Heerscharen das Feld überlassen?«
«Hast schon recht, Mondauge. Was wären die Weiber ohne uns …«
«Nichts, mein Freund, nichts. Sie würden weinen. Wie die Bullen. Und wie das Finanzamt.«
Als er in den Zug steigt, ist ihm kurz schwindlig. Eine Sekunde nur, oder noch kürzer, setzt etwas aus in ihm, in seinem Kopf, als wäre das System kurz unterbrochen, ein schwarzer, nein, ein weißer Fleck, ein Sekundenbruchteil Nichts. Dann ist er wieder da, hält sich am Haltegriff neben der Tür fest, spürt, dass jemand hinter ihm steht, spürt, wie er diesen Jemand kurz berührt, bevor er in den Waggon steigt. Er reißt die Schiebetür auf und setzt sich auf den ersten freien Platz. Der Koffer steht zwischen seinen Füßen. Sein Herz schlägt normal. Alles in Ordnung. Bumm. Bumm. Bumm. Der Bahnsteig ist leer, das Fenster schmutzig. Ein paar Leute laufen an ihm vorbei. Dann fährt der Zug schon an. Ruckelt. Hält kurz. Fährt wieder. Er nimmt die Zeitung aus seiner Manteltasche, legt sie auf den kleinen Tisch unterm Fenster.
Ihm fällt ein, dass er eine 1.-Klasse-Fahrkarte gekauft hat. Später, als der Schaffner kommt und ihn darauf hinweist, sagt er:»Sitzt sich gut hier«, das klingt komisch, er merkt das, der Schaffner nickt und geht weiter. Er hat keine Lust aufzustehen. Er ist ein wenig müde. Sie fahren durch einen Regen, er sieht die Wälder verschwommen, Dörfer, der Zug hält oft. Hat auch in Berlin noch oft gehalten. Viele Baustellen dort. Große Kräne hinter den Häusern. Baugruben direkt neben dem Bahndamm. Halbfertige Burgen aus Glas. Man hätte in Baufirmen investieren können, denkt er, wenn man dumm gewesen wäre. Besser in Bauland, aber auch das hätte schiefgehen können, heute eine Million, morgen Hunderttausend. Auch in der Stadt im Osten, seiner neuen Dependance, bauten sie wie die Irren. Das Grau dort verschwand und verschwindet langsam. Die Banken schmissen mit Krediten um sich. Aber als die Luft aus dem großen Immobilien-Paten, der die halbe Stadt gekauft hatte, rauspfiff wie ein gewaltiger Furz und die Banken ihn fallenließen bis ganz nach unten in den Knast, und das war ja auch ein Gestank! da war er froh, dass er nicht in eine Baufirma investiert hat in der Stadt im Osten und in kein Grundstück in der goldenen Mitte. Er hat gewusst, dass die Dinge so laufen würden. Treibsandprinzip. Domino-Day. Und er hat früh genug und in die richtigen Objekte investiert, und die Preise und der Preisverfall im Stadtzentrum haben den Markt reguliert, so wie er es gebraucht hat. Am Rand der Stadt. Bauland. Autobahnauffahrt, Autobahnabfahrt. Die Burg. Große Sache. Hat Kraft und Zeit und Geld gekostet. Kredite hat er auch bekommen. Er hat einen guten Ruf. Hat mit seinen Leuten in Bielefeld gebaut, vor Jahren und Jahrzehnten schon in Neuss investiert, hat Anteile und Prozente in Frankfurt/Main und anderswo, und gar keine schlechten. Und mit einer eigenen Baufirma ist man immer drauf angewiesen, dass man die richtigen Aufträge bekommt und mit den richtigen Leuten dealt. Das wäre schon machbar gewesen. Mit oder ohne Paten. Das neue Land ist groß genug. Aber letztendlich doch nur Peanuts. Nur die Sehnsucht nach was Solidem, die jeder manchmal hat, der das endlose Fließen des Geldes und des Marktes fast schmerzhaft spürt nach all den Jahren. Baggerträumereien. So wie er mit seinem Bruder kleine Häuser baute im Wald, aus Holz und Stein und Lehm. Hat er oft drüber nachgedacht und sich erinnert. Aber er ist der Mann mit dem Plan. Der die Aufträge in Auftrag gibt. Der die Nase hat und die Gelder verwaltet und investiert. Sein Bruder. Seine Leute. Die Gesellschaft im Hintergrund. Die stillen Teilhaber. Seine Firma. Aktie Rotlicht. Und jetzt die Grenze.
«Groß zu sein zahlt sich aus. «Das hatte er selbst gesagt.»Je größer die Firma, umso besser der Profit. Think big, wie unsere Freunde aus der Wirtschaft sagen.«
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