«Unsäglich?«
«Nur das Wort, nur das Wort. Weil ich dieses ganze scheinheilige Gequatsche nicht mehr hören kann.«
«Du hast dich also schon mit der Geschichte und der Vergangenheit des Rotlichts auseinandergesetzt?«
«Zumindest weiß ich, woher all das kommt, wo es einmal seinen Anfang nahm. Und immer schon ein Teil der Gesellschaften gewesen ist. Ob’s die Leute wahrhaben wollen oder nicht.«
«Was würdest du zum Beispiel einer Alice Schwarzer entgegnen, die ja ein entschiedener Feind der …«
«Feindin, Gegnerin.«
«Ja.«
«Nichts. Gar nichts. Weil sich da eine Diskussion überhaupt nicht lohnt.«
«Wie wird man eigentlich ein Engel?«
«Schon immer hat mich dieser Mythos fasziniert. Da hab ich immer gedacht, ob das nicht ein besonderer Weg sein kann. Schon Mitte der Neunziger. Ein eigener Weg, weil die Gesellschaft keine Wege mehr zeigte, eine Vereinigung, die für etwas steht.«
«Ich könnte jetzt fragen, für was …«
«Das hatten wir doch schon.«
«War es auch die Faszination eines Männerbundes, einer Art Geheimloge?«
«Quatsch. Schon in den Neunzigern hatte ich Kontakte zu Mitgliedern der Engel. Habe die Biographie des alten Gründers B. gelesen. Born to be wild. Habe einige Engel getroffen, mit denen ich bis heute befreundet bin.«
«Auch den großen Mann aus H.?«
«Ja. Natürlich. Sonst würde ich mich nicht so sehr über diesen bescheuerten ›Tatort‹ aufregen. Ein Mensch, der mich sehr beeindruckt hat. In seiner ganzen Konsequenz. Er ist immer unbeirrbar seinen Weg gegangen. Und den Weg der Engel. Das zu vereinbaren, vielleicht ist das eins unserer großen … Ideale.«
«Es gab ja viele Jahre hier in der Stadt eine Niederlassung eines kleineren Motorradclubs, der als Ableger beziehungsweise Unterstützer der Engel gilt. Es war doch kein Zufall, dass die Engel erst kamen und du den Vorsitz übernommen hast, als die feindliche Übernahme des Marktes durch die Locos drohte …«
«Hör mal, mein Freund, erspar mir die Mutmaßungen. Nur weil ich müde bin, solltest du nicht den Bogen überspannen.«
«Und jetzt hast du den Vorsitz der Niederlassung niedergelegt. Aus welchen Gründen auch immer …«
«Weißt du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?«
«Nein.«
«Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen.«
«Rotkäppchen war also eine Hure?«
«Du solltest jetzt gehen. Ich habe noch viel zu tun.«
Nacht. Morgen. Der Club ist leer. Die Stadt ist leer. Der Mond ist ein gelbes Ei. Katzen kriechen über den Hof. Ein kleines Mädchen steht am Fenster. Ein Mann sitzt hinter den Spiegeln.
Tote Taube in der Flughafenstraße
Hans blinzelt in die Sonne, die direkt über dem Flachbau vor ihm noch recht hoch am Himmel steht. Keine Wolken, kein Wind, er wischt sich über den schweißnassen Hals. Wieder der Geruch nach Fäulnis, und er blickt kurz auf die überquellenden Aschentonnen neben ihm an der Hauswand.
Es scheint ihm, dass es auf dem kleinen Hinterhof viel schwüler und heißer ist als draußen auf der Straße. Er kann den Verkehr hören, kurz nach vier, Freitag, vor drei Tagen war der längste Tag des Jahres, Rushhour, Hauptverkehrszeit, Pendlerzeit, Feierabend, Schritte in der Toreinfahrt hinter ihm, er dreht sich um, aber da ist niemand. Er blickt auf die Fenster des Flachbaus, das geteerte, nach vorne abfallende Dach glänzt flüssig in der Sonne. Außer dem mal lauter und mal leiser werdenden Verkehrslärm ist nichts zu hören in dem Innenhof, als stünden alle Häuser leer. Hans blickt an der Fassade der Wohnhäuser empor, einige Fenster sind geöffnet, und die Gardinen bewegen sich leicht, obwohl kein Wind zu spüren ist.
Hans greift in die Innentasche seines Jacketts, steckt das Zigarettenetui aber dann wieder zurück. Viel zu heiß zum Rauchen, und ihm ist noch leicht schwindlig von dem Sekt, den er vorhin getrunken hat. Hätte er sich sparen können alles. Bin ich zu alt für diesen Scheiß? denkt er, schiebt die Aufschläge seines Jacketts zur Seite, wieder scheint es ihm, in einem der Fenster des Flachbaus würde sich etwas bewegen, und er berührt kurz seinen Gürtel, an dem er sein Handy in einer kleinen Ledergürteltasche trägt. Vor einigen Monaten hatte er wieder seine Herrenhandtasche rausgekramt, weil er gehört hatte, dass die alten Dinger wieder angesagt waren, Handys, Sonnencreme, Zigaretten, Sonnenbrille, K.o.-Spray, alles für den Herrn, aber jetzt muss er lachen, als er sich vorstellt, wie er mit der Hand in der Schlaufe der kleinen braunen Ledertasche über die Flughafenstraße flaniert. Sein Vater hatte sie ihm zu seinem siebzehnten Geburtstag geschenkt, und dass sich mache Leute über diese Handgelenkstaschen lustig machten und sie» Stasi-Taschen «nannten, hatte er erst ein paar Jahre später in Berlin erfahren. Und tatsächlich trugen einige von der Firma diese Taschen, damals, als sie ihn anwerben wollten, zwei Jahre vor der Wende. Vorwärts, und nicht vergessen … Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs’ noch Esel auf. Bis zum Schluss. Standhaft bis zum Schluss. Ich ja auch, dachte er und blinzelte in die Sonne und ging ein paar Schritte auf den Flachbau zu. Er kannte ein paar Leute, die direkt von der Firma ins Geschäft eingestiegen sind. Oder Ex-Bullen, Ost. Die hatten gute Kontakte und waren Experten in Sachen Sicherheit. Von der Stasi in den Puff. Wieder lachte er leise, und als hätte sein Lachen in dem stickigen Hinterhof gehallt und die träge Stille zerrissen, öffnete sich die Tür des Flachbaus, und ein Mann trat auf das kleine hölzerne, verandaähnliche Podest, von dem ein paar Stufen runter in den Hof führten.
Hans legte die flache Hand an die Stirn, über die Augen, sah weiße Türme, Plattenbauten, hinter dem Flachbau, verschwommen in dem flimmernden Licht überm Asphalt der vielen Straßen, sah, wie die Stadt und das Viertel und die Häuser sich in diesem Licht bewegten, graue Wände, rote Ziegelquader, hohe Silos, Tausende Fenster warfen ihre gläsernen Strahlen fächerförmig durch den kürzer werdenden Tag, Kondensstreifen von Flugzeugen darüber im Hellblau, Hans blickt in das Gesicht des Anwalts Emil Fischer, mit dem er vor etwas mehr als zwei Jahren Eierschecke im Städtchen G. in Thüringen gegessen hat, oder war es eine örtliche Spezialität namens Kaiserschmand mit einer dezenten Malznote? der Anwalt stand auf der untersten Stufe und reichte ihm die Hand. In der anderen Hand hielt er einen Aktenkoffer, über den er sein Jackett gelegt hatte.»Freut mich, Hans, schön dich zu sehen, die Kollegen kommen gleich. Nichts für ungut, aber ich muss weiter. Hab’s eilig. Geschäfte, Geschäfte.«
Er trug eine weite braune Bundfaltenhose und ein kurzärmliges weißes Hemd. Eine dunkelrote Krawatte klebte auf dem verschwitzten Stoff.»Und unser Geschäft?«Hans ließ die schlaffe, feuchte Hand los, die sich ihm bereits wieder entwand, weil der Anwalt Emil Fischer sich schon halb zum Gehen weggedreht hatte.»Unser Geschäft«, sagte er und legte seine kurz auf Hans’ Schulter, und Hans spürte, dass sie plötzlich nicht mehr schlaff war, sondern fest zudrückte,»da ist doch alles klar, ist doch alles geklärt, mein Lieber, die Ware ist auf dem Weg ins Land der aufregenden Sonne, der Rest der Provision wartet, alles klar wie ein schöner Sommertag.«
«Ich dachte nur, du wärst dabei, um die … hm … Formalitäten zum Abschluss zu bringen. Ist ja eine große Summe. So hatten wir das doch …«
«Abgesprochen. Ich weiß, ich weiß. Aber ich muss nun doch nochmal … kurz … weg. «Er griff etwas umständlich in seine Hosentasche und zog eine Taschenuhr heraus, Hans war überrascht von diesem plötzlichen silbernen Funkeln in der Hand des Anwalts.»Aber ich denke«, der Deckel der silbernen Uhr sprang auf, und Emil Fischer blickte auf das Ziffernblatt, und kurz glaubte Hans, eine leise Melodie zu hören,»dass wir uns nachher noch sehen. Dann könnten wir vielleicht etwas essen gehen. Nicht weit von hier gibt’s ein sehr gutes Lokal.«
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