Der Taxifahrer hatte nur einen linken Arm und schaltete die Gänge, indem er den Oberkörper herumdrehte, während er mit den Knien das Steuer festhielt. «Mine», sagte er und wedelte mit der kahlen rechten Schulter. Es war sein einziger Beitrag zur Konversation. Über schmale, abenteuerliche Serpentinen ging es das Küstengebirge hinauf.
Das Sheraton war nicht das einzige Gebäude auf dem Höhenzug, aber das einzige, das mit seinen zwanzig Stockwerken weit über den Dschungel hinauswuchs.
Es war in den fünfziger Jahren errichtet worden, und der Architekt hatte sich nicht entscheiden können zwischen Funktionalität und einer nachträglich an die Wände geklatschten Folklore aus bunten Mosaiken, Spitzbögen und Mukarnas; eine eklektizistische Katastrophe. Es lag sicher nicht an dieser Stillosigkeit allein, dass sich das Hotel so großer Beliebtheit erfreute, aber sie hatte ihren Anteil daran. Selbst in der Nebensaison musste man lange im Voraus buchen.
Meine Eltern hatten ein Zwei-Zimmer-Apartment im neunten Stock gemietet, und wenn sie mich, wie so oft, hinausschickten, um hinter verschlossenen Türen geheimnisvolle Dinge zu treiben, erkundete ich allein das weitläufige Hotelgelände. Ich ließ mir vom Poolwärter die Verteilung der Handtücher zeigen, betrachtete die immer wieder verwirrende Droste-Cacao-Werbung vor dem Restaurant und half einer hübschen jungen Frau an der Bar, die Strohhalme zu sortieren. Mit meinen ersten französischen Worten («numéro neuf cent dix-huit») bestellte ich unbegrenzte Mengen Zitroneneis und Coca-Cola und fuhr mit dem Fahrstuhl vom Keller zur Dachterrasse und zurück. Die Hotelangestellten liebten mich. Ich trug ein weißes T-Shirt mit den olympischen Ringen drauf und eine kurze Lederhose mit roten Herzchen als Taschen.
Was das für geheimnisvolle Dinge waren, die meine Eltern nötigten, Tag für Tag die Türen vor mir zu schließen, wusste ich nicht. Ich war sieben Jahre alt. Ich wusste nur, dass es mit Sex nichts zu tun hatte. Sexuelle Handlungen waren tabu, denn alle Lebenskraft lag im Samen, und der Samen hatte im Körper zu verbleiben. So lehrte es der große Sri Chinmoy. Heute denke ich, dass die verschlossenen Türen mit den kleinen Plastiktütchen zusammenhingen, die mir bei Spaziergängen durch Targat mit einer Sicherheitsnadel hinter den Quersteg der Hosenträger meiner Lederhose geheftet wurden. Aber ich war weder sehr neugierig zu erfahren, was es damit auf sich hatte, noch unglücklich über mein Schicksal. Am liebsten stand ich auf der Dachterrasse.
Von der Dachterrasse des Sheraton hat man einen zur Seeseite hin schwindelerregenden Blick über die Bucht von Targat und den kleinen Hafen. Zahlreiche zum Hotel gehörige weiße Bungalows liegen über die Flanke des Berges ausgeschüttet wie Würfelzucker. Rostige Lastkähne, sandfarbene Häuser und lehmige Gassen drängen sich im Halbkreis um das Meer, und im Hafen dümpelt alle zwei Wochen ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff, ein riesiger, schwimmender Tempel, der für die einen Wohlstand und Vergnügen bedeutet und für die anderen nur Wohlstand. Nach Osten hingegen sieht man knapp über den rückwärtigen Berggrat hinweg bis weit ins Landesinnere, über einen Dschungel aus grünem Blumenkohl, Plantagen und Slums hinweg in die endlose Wüste hinaus, wo an klaren Tagen am Horizont die Felsnadel von Tindirma zittert.
Wenn ich von dort über fünf Kugeln Zitroneneis hinweg den gewölbten Erdball sah, war ich vollkommen glücklich. Ich war Rommel auf der Wüstenseite und rettete meine Männer gegen den ausdrücklichen Befehl des Führers, ich war Jacob Roggeveen am Meer und entdeckte unbekannte Osterinseln, und wenn ich zwischendurch einmal ich selber war, versuchte ich, auf die Köpfe der blonden, braunen und schwarzen Ameisen zu spucken, die fünfzig Meter unter mir aus dem Gebäude strömten. Auf dem Weg dorthin trieb der Wind meine Spucke davon, meistens traf ich nur eine blaue Markise. Die Frage, ob ich am letzten Augusttag des Jahres 1972 auch dort oben gestanden und die amerikanische Touristin und den einarmigen Taxifahrer bemerkt habe oder ob hier eine Fotografie meine Erinnerung überlagert, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten. Sicher ist allerdings: Nachdem Helen Gliese sich den Schlüssel für ihren Bungalow an der Hotelrezeption abgeholt hatte, verließ sie das Gebäude sofort wieder in Begleitung eines jungen Pagen, der ihren kleinen Kalbslederkoffer trug. Der Page wiegte den Kopf beim Gehen hin und her, als ob er leise vor sich hin sänge, und versuchte beim Überqueren der Straße mehrmals wie geistesabwesend die Hand der platinblonden Frau zu ergreifen.
Helens Bungalow lag auf halbem Weg zum Meer. Er hatte zwei Zimmer und eine Küche, eine Terrasse mit Meerblick und ein Mosaik aus gelben und blauen Arabesken über der Tür, in das mit roten Steinchen die Nummer 581d eingelassen war. Eine Fotografie dieser Tür, wie sie damals in vielen Zeitschriften zu finden war, hängt über meinem Schreibtisch.
Mit derlei unwichtigem Hoftratsch, der ebenso nichtssagend war wie die Begebenheit, die wir vorhin erzählt haben, müsste man den Bericht über die vier nächsten Jahre ausfüllen.
Stendhal
Canisades konnte besser mit den Einheimischen. Er stammte aus einer kleinen Stadt im Norden des Landes, seine nach den Unabhängigkeitskriegen zu Verwaltungsbeamten heruntergekommenen Vorfahren gehörten ehemals der Oberschicht an. Wie Polidorio hatte er in Frankreich studiert. Auf dem Pariser Nobelinternat, das er zwei Jahre lang besuchte, gab er an, eine jüdische Mutter zu haben, was nicht stimmte. In Targat behauptete er, Spross einer französischen Industriellenfamilie zu sein, was auch nicht stimmte. Ansonsten war Canisades kein schlechter Mensch. Sein leichter, erfindungsreicher Umgang mit der eigenen Biographie schien ihm ebenso angeboren wie die eleganten Umgangsformen und ein Charme, der in Mitteleuropa schmierig genannt worden wäre und hier die Herzen aufschloss. Er hatte kurz vor Polidorio seinen Dienst in Targat angetreten, aber im Gegensatz zu diesem keine Schwierigkeiten, sich zu akklimatisieren. Nach zwei Wochen kannte ihn die halbe Stadt. In den Kifferspelunken an der Corniche ging er ebenso ein und aus wie in den Villen der amerikanischen Intellektuellen, und er versah seinen Dienst im Übrigen durchaus zufriedenstellend.
Wenig von Erfolg gekrönt waren allein seine Versuche, auch den neuen Kollegen in das Gesellschaftsleben der Stadt einzuführen. Polidorio ließ sich zwar gern zu allerhand überreden, konnte aber mit den Gruppen, zu denen Canisades so eifrig wie unterschiedslos Kontakt aufnahm, nur wenig anfangen. Die Idee, eine Party der High Society einem Abend unter Freunden vorzuziehen, wäre ihm nie gekommen, und wie alle, denen gesellschaftliche Eitelkeit unbekannt ist, hatte Polidorio Mühe, sie sich als Triebfeder in anderen vorzustellen.
Was ihm noch am ehesten zusagte, waren die spätnächtlichen Bordellbesuche. Seitdem Canisades ihm in der langen Nacht der Akten einmal gezeigt hatte, wie die Sache funktionierte, war der Gang ins Hafenviertel für ihn zur lieben Gewohnheit geworden. Wobei schwer zu sagen war, was ihn daran reizte. Die geschlechtliche Befriedigung sicher nicht, dafür fand sie zu selten statt.
Die Frauen, die dort arbeiteten, stammten aus entsetzlichen Verhältnissen, keine von ihnen hatte je eine Schule besucht, und wer annahm, dass sie ihre intellektuellen Defizite durch Einfühlungsvermögen oder körperliches Geschick wettzumachen verstanden, täuschte sich.
Polidorio verachtete sie für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte. Es war eher die Atmosphäre, die ihn anzog, die unmerkliche Verschiebung des Alltags, der Verstoß gegen die Ordnung der Dinge, dem er sich von Berufs wegen eigentlich entgegenstemmen musste, und vor allem diese unerklärliche Aufregung. Er unterhielt sich gern mit den Damen, und es beförderte ihn in einen sonderbaren Zustand, zu wissen, dass er etwas mit ihnen tun konnte, wenn er denn wollte. Unter dieser Aufregung, die sich schon beim Gang ins Hafenviertel zuverlässig einstellte, vermutete Polidorio beständig eine Art Abgrund. Etwas tief Beunruhigendes, ja Dämonisches, das ihm, wie vielen schlichten Gemütern, an sich selbst gut gefiel: Hat meine Persönlichkeit vielleicht noch verborgene Schichten? Untiefen, die mich zu verschlingen drohen? Wobei er mit seiner Idee des Dämonischen nicht weit über das hinauskam, was Frauenzeitschriften von der Psychoanalyse wussten.
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