Er blätterte in den Akten.
«Wo sind eigentlich die Fingerabdrücke?»
«Was für Fingerabdrücke?»
«Auf der Waffe.»
Karimi wickelte kopfschüttelnd eine Schokopraline aus dem Stanniolpapier.
«Wir haben vierzig Augenzeugen», sagte Canisades. «Und Asiz ist im Urlaub.»
«Das kann doch jeder andere auch?»
«Was kann jeder andere auch? Kannst du das?» Karimi, der unbedingt noch bei Helligkeit zurück nach Tindirma wollte, wo er eine Verabredung mit einem LIFE-Reporter hatte, schnaubte. «Nicht mal Asiz kann das. In der Palastwache hat er eine Woche lang das Gelände zugeklebt. Dann hatte er vierhundert Abdrücke, und die einzigen beiden, die erkennbar waren, waren vom achtjährigen Sohn des Hausmeisters.»
Polidorio seufzte und sah zum Anwalt hinüber, der aufgehört hatte zu reden.
Amadous Kopf war auf halbmast gesunken.
Ich bekam mal einen wundervollen Brief von der Ärzteschaft der medizinischen Fakultät in Boston, Massachusetts. Sie hatten mich zu der Person gewählt, die sie am liebsten operieren würden.
Dyanne Thorne
Helen war sich der Wirkung ihrer Person nie bewusst gewesen. Sie kannte sich nur von Fotos oder aus dem Spiegel. Ihrer eigenen Einschätzung nach sah sie gut, auf manchen Bildern sogar atemberaubend aus. Sie hatte ihr Leben im Griff, ohne besonders glücklich oder unglücklich zu sein, und sie hatte keine Probleme mit Männern. Jedenfalls nicht mehr als ihre Freundinnen. Eher weniger. Vom Beginn der Highschool an gerechnet, hatte Helen sieben oder acht Beziehungen gehabt, allesamt mit Jungen, die etwa in ihrem Alter, sehr nett, sehr wohlerzogen und sehr sportlich waren, Jungen, denen Intelligenz an ihren Freundinnen nicht sonderlich wichtig erschien und die sie auch an Helen selten bemerkten.
Helen machte sich keine Gedanken deswegen. Wenn Männer sich für geistig überlegen halten wollten, war sie nicht verstört. Meist hielten diese Beziehungen nicht lange, und ebenso schnell, wie sie zerbrachen, fanden sich neue. Ein Gang über den Campus in bauchfreiem T-Shirt, und Helen hatte drei Einladungen zum Abendessen. Die einzige Frage, die sie sich von Zeit zu Zeit stellte, war, warum die wirklich interessanten Männer sie nie ansprachen. Sie konnte sich das nicht erklären. Depressionen hatte sie wie alle anderen, nicht öfter. Aus Romanen wusste sie, dass die schönsten Frauen auch immer die unglücklichsten waren. Sie las viel.
Einen ersten Riss erhielt ihr Selbstbewusstsein, als sie zur Vorbereitung auf ein Referat ihre Stimme mit einem Tonbandgerät aufzeichnete. Helen hörte sich diese Aufzeichnung genau vier Sekunden lang an und hatte anschließend nicht den Mut, die Play-Taste ein zweites Mal zu drücken. Ein Außerirdischer, eine Tex-Avery-Figur, ein sprechendes Kaugummi. Ihr war bewusst, dass die eigene Stimme etwas Fremdes sein kann, aber die Laute auf dem Tonband waren mehr als fremd. Im ersten Moment hielt sie sogar einen technischen Defekt für möglich.
Der picklige Chemieprofessor, der ihr das Tonband geliehen hatte, erklärte, im Kopf mitschwingende Knochen und Resonanzräume seien die Ursache, dass der Mensch die eigene Stimme voller und wohltönender wahrnehme, als sie in Wirklichkeit sei, und Überraschung sei eine angemessene Reaktion. Er selbst hatte die Fistelstimme eines Kastraten und konnte seinen Blick beim Sprechen nicht von Helens Ausschnitt lösen. Sie veranstaltete keine weiteren Experimente in dieser Richtung und vergaß die Sache. Das war in ihrem ersten Jahr in Princeton.
Helen hatte die Zulassung mühelos geschafft und ein begehrtes Stipendium erhalten. Aber wie viele Studienanfänger reagierte sie auf das Verpflanztwerden in eine Welt voller fremder und abgezirkelter Rituale mit starker Verunsicherung. In ihrem Studentenwohnheim fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor im Leben. Sie stürzte sich in Studien, ging auch dem langweiligsten Smalltalk nicht aus dem Weg und mühte sich, feste Termine für die meisten Abende der Woche zu finden.
Durch die Vermittlung eines Bekannten, der englische Literatur studierte, kam Helen in Kontakt mit einer Laienschauspielgruppe, die vier- oder fünfmal im Jahr ein klassisches Stück, selten etwas Modernes, aufführte. Die meisten Teilnehmer der Gruppe studierten, aber auch zwei Hausfrauen, ein ehemaliger Professor, der sich gern nackt auszog, und ein junger Gleisarbeiter waren mit von der Partie. Der Gleisarbeiter galt als der heimliche Star der Gruppe. Er war 24 Jahre alt, hatte das Gesicht eines Filmschauspielers, einen Körper wie eine griechische Plastik und konnte sich — einziger Mangel — keinen Text merken. Nicht zuletzt um seinetwillen beschäftigte Helen sich fast drei Jahre lang mit den Dramen der elisabethanischen Zeit.
Zuerst bekam sie nur kleine Rollen, später spielte sie die Bianca in Der Widerspenstigen Zähmung und die Dorothea Angermann. Sie war nicht untalentiert, und sie hätte auch nichts dagegen gehabt, einmal die strahlende Heldin zu sein; aber die besten Rollen wurden, wie ihr schien, weniger nach Talent als nach Erfahrung besetzt. Wer am längsten dabei war, war Desdemona.
Und dann spielten sie Die Katze auf dem heißen Blechdach . Man führte weniger das Stück auf, als dass man den Film nachspielte. Der Gleisarbeiter brillierte als Paul Newman, sah dem großen Vorbild irritierend ähnlich und humpelte derart lässig an Krücken über die Bühne, dass seine Unterhaltungen mit dem Souffleur wirkten wie ein raffinierter Teil des Stückes. Eine umwerfend schwarzhaarige Biologiestudentin aus dem vierten Studienjahr stellte Liz Taylor dar. Helen war Mae. Die bigotte Mae mit ihrer bigotten Familie. Man polsterte ihre Taille auf das Fünffache auf, puderte ihr die Haare grau, malte Apfelbäckchen unter die hohen Wangenknochen, steckte sie in ein kartoffeliges Kleid, und als halslose Kinder wurden ihr die Enkel des ehemaligen Professors zur Seite gegeben, denen man, da sie in Wirklichkeit Hälse besaßen, Zervikalstützen umgebunden hatte. Ihre Münder wurden mit Schaumgummi ausgestopft, und statt zu sprechen, gaben die Kinder ein vom Publikum begeistert begrüßtes, konsonantenloses Gequengel von sich.
Der Dozent, der die Gruppe leitete, nahm die Premiere mit der Doppel-8-Kamera auf. Es war das erste Mal seit ihrer Einschulung, dass Helen gefilmt wurde, und bei der Vorführung des Films musste sie den Raum verlassen. Sie ging auf die Toilette, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und übergab sich. In sehr aufrechter Haltung kehrte sie anschließend in den Vorführraum zurück, blickte anderthalb Stunden knapp an der Leinwand vorbei und lauschte dem monotonen Rattern des Projektors. Als nächstes Stück stand Schnitzlers Reigen auf dem Spielplan, aber noch bevor die spannende Frage beantwortet werden konnte, welche Rolle man ihr diesmal zuteilen würde, trat sie aus der Theatergruppe wieder aus.
Ihr Dozent bedauerte diesen Schritt. Außer ihm schien niemand groß Notiz davon zu nehmen. So wie niemand Notiz davon genommen hatte, was für eine durch und durch lächerliche und geistlose Vorstellung Helen auf der Bühne gegeben hatte. Zwar in gewisser Übereinstimmung mit der Rolle — um ehrlich zu sein, in genauer Übereinstimmung mit der Rolle — , aber die Figur doch auf eine Weise gelungen darstellend, die man nur schlecht als geschauspielert empfinden konnte. Diese Mimik, diese Intonation! Und niemand fand es bemerkenswert. Beim Schlussapplaus warf Helen noch einmal einen Blick auf die Leinwand. Lärmpegel und Pfiffe verdoppelten sich, als Mae im grotesken Baumwollhänger einen Schritt nach vorne tat, geziert die Arme um zwei halslose Ungeheuer legte und den Mund zu einem entsetzlich dümmlichen Lächeln verzog. Das letzte Bild auf einer knatternd sich drehenden Filmspule.
Auf der anschließenden kleinen Feier trank Helen zu viel Wein, und ihre letzte Handlung, bevor sie sich dauerhaft von der Gruppe verabschiedete, war, dem Gleisarbeiter ins Ohr zu flüstern, sie werde ihn flachlegen diese Nacht. Sie nannte Adresse und Uhrzeit und ging, ohne seine Reaktion abzuwarten. Dass sie ihre Worte bewusst drastisch gewählt hatte, um einen Misserfolg von vornherein zu rechtfertigen, machte es nicht besser.
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