Wir schicken jedes Jahr — und scheuen dabei weder Leben noch Geld — ein Schiff nach Afrika, um Antwort auf die Fragen zu finden: Wer seid ihr? Wie lauten eure Gesetze? Welche Sprache sprecht ihr? Sie aber schicken nie ein Schiff zu uns.
Herodot
Auf der Lehmziegelmauer stand ein Mann mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt. Er hatte einen verrosteten Schraubenschlüssel in der einen Hand und einen blauen Plastikkanister in der anderen. Sein Blick fiel über Zelte und Baracken, Müllberge und Plastikplanen und die endlose Wüste hinweg auf einen Punkt am Horizont, über dem in Kürze die Sonne aufgehen musste.
Als es so weit war, schlug er Schraubenschlüssel und Plastikkanister gegeneinander und rief: «Meine Kinder! Meine Kinder!»
Die östlichen Wände der Baracken flammten hellorange auf. Der hohle, schleppende Rhythmus sank in die bleigrauen Gassen hinab. In Kuhlen und Gräben wie Mumien liegende verschleierte Gestalten erwachten, rissige Lippen formten Worte zu Lob und Preis des alleinigen Gottes. Drei Hunde tauchten ihre Zungen in eine schlammige Pfütze. Die ganze Nacht über war die Temperatur nicht unter dreißig Grad gesunken.
Unbeeindruckt hob sich die Sonne über den Horizont und schien über Lebende und Tote, Gläubige und Ungläubige, Elende und Reiche. Sie schien über Wellblech, Sperrholz und Pappe, über Tamarisken und Dreck und eine dreißig Meter hohe Barriere aus Müll, die Salzviertel und Leeres Viertel von den übrigen Bezirken der Stadt trennte. Ungeheure Mengen von Plastikflaschen und entkernten Autos erstrahlten in ihrem Licht, Pylonen aus aufgeklopften Batteriegehäusen, zerschroteten Ziegeln, Schamott, Gebirge aus Fäkalschlamm und Tierkadavern. Über die Barriere hinweg hob sich die Sonne und beschien die ersten Häuser der Ville Nouvelle, vereinzelte zweistöckige Gebäude im spanischen Stil und die bröckeligen Minarette der Vorstadt. Lautlos glitt sie über die Rollbahn des Militärflughafens, die Tragflächen einer verlassenen Mirage 5, den Suq und die angrenzenden Verwaltungsgebäude von Targat. Ihr Licht glänzte auf herabgelassenen Metallrouleaus kleiner Handwerksgeschäfte und drang durch die Fensterläden des zu dieser Stunde noch unbesetzten Zentralkommissariats, wanderte die von Halfagras gesäumte Hafenstraße hinauf, rieselte am zwanzigstöckigen Sheraton-Hotel hinunter und erreichte kurz nach sechs Uhr das vom Küstengebirge sanft abgeschirmte Meer. Es war der Morgen des 23. August 1972.
Kein Wind wehte, keine Welle ging. Wie eine Panzerplatte dehnte sich das Meer bis zum Horizont. Ein großes Kreuzfahrtschiff mit gelben Schornsteinen und erloschenen Lichterketten lag schlafend vor Anker, leere Champagnergläser standen auf der Reling.
Der Reichtum, wie unser Freund mit dem blauen Plastikkanister zu sagen pflegte, der Reichtum gehört allen. Holt ihn euch.
2. DAS ZENTRALKOMMISSARIAT
You know what happened to the Greeks? Homosexuality destroyed them. Sure, Aristotle was a homo, we all know that, so was Socrates. Do you know what happened to the Romans? The last six Roman emperors were fags.
Nixon
Polidorio hatte einen IQ von 102, errechnet nach einem Fragebogen für französische Schulkinder im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren. Den Fragebogen hatten sie im Kommissariat als Packpapier für in Marseille gedruckte Formulare gefunden und nacheinander mit Bleistift ausgefüllt, in der vorgeschriebenen Zeit. Polidorio war schwer betrunken gewesen. Canisades auch. Es war die lange Nacht der Akten.
Zweimal im Jahr wurden auf den Fluren Berge aus Papier aufgetürmt, flüchtig durchgesehen und im Hof verbrannt, eine lästige Pflicht, die oft bis zum Morgengrauen dauerte und traditionell an den Dienstjüngsten hängenblieb. Warum manche Akten weggeworfen und andere aufbewahrt wurden, konnte niemand erklären. Man hatte die Verwaltung von den Franzosen übernommen, wie man eine Höflichkeitsformel übernimmt, und der bürokratische Aufwand stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Die wenigsten Angeklagten konnten lesen und schreiben, Gerichtsverfahren waren kurz.
Mitten in der Nacht hatte es im Kommissariat einen Stromausfall gegeben, Polidorio und Canisades waren stundenlang damit beschäftigt gewesen, jemanden aufzutreiben, der einen Vierkantschlüssel für den Sicherungskasten besaß. Eine Weile hatten sie bei Kerzenschein weitergearbeitet, und unter dem Einfluss von Kif und Alkohol war ihre Ermüdung in Euphorie umgeschlagen. Sie veranstalteten im Hof Schneeballschlachten mit zerknülltem Papier und auf den Gängen eine Verfolgungsjagd mit rollenden Aktenschränken. Canisades erklärte sich zu Emerson Fittipaldi, Polidorio setzte mit einer Zigarette einen Abfallhaufen in Brand, dann fiel aus einer umgestürzten Hängeregistratur ein Packen Spezialausweise aus der Kolonialzeit. Sie spannten die Ausweise in die Schreibmaschine, trugen Phantasienamen ein und stolperten damit im Licht des hereinbrechenden Tages gemeinsam ins Bordell («Sonderermittler des Tugendkomitees, Bédeux mein Name»).
Und davor eben der verhängnisvolle IQ-Test. An die meisten Erlebnisse dieser fatalen Nacht konnte Polidorio sich hinterher nur noch undeutlich erinnern. Aber das Testergebnis blieb hängen. Einhundertzwei.
«Alkohol, Stress, Stromausfall!», rief Canisades, eine kleinbusige Schwarze auf jedem Knie. «Ist das eine Entschuldigung? Runden wir einfach auf hundert ab.»
Canisades’ Ergebnis hatte deutlich höher gelegen. Um wie viel höher, selbst daran konnte Polidorio sich nicht erinnern. Aber die eigene Zahl stand von nun an festbetoniert in seinem Gedächtnis. Obwohl er sicher war, dass er im nüchternen Zustand mehr Punkte erzielt hätte — nicht mehr als Canisades, aber mehr auf jeden Fall — , fiel ihm das jetzt jedes Mal wieder ein, wenn er etwas nicht verstand. Wenn er etwas mühsamer begriff als andere, wenn er Sekundenbruchteile später über einen Witz lachte als seine Kollegen.
Polidorio hatte sich immer für einen verständigen und begabten Menschen gehalten. Wenn er nun zurückblickte, wusste er nicht, worauf sich diese Überzeugung gegründet hatte. Er war ohne große Schwierigkeiten durch die Schule, die Ausbildung, die Prüfungen gekommen, aber mehr auch nicht. Immer Mittelfeld, immer Durchschnitt. Und nichts anderes besagte die Zahl ja auch: Durchschnitt.
Die Erkenntnis, nichts Besonderes zu sein, überfällt die meisten Menschen einmal in ihrem Leben, nicht selten gegen Ende der Schulzeit oder zu Beginn der Berufsausbildung, und die intelligenteren eher als die unintelligenten. Aber nicht alle leiden gleich stark darunter. Wer mit den Idealen des persönlichen Verdienstes, der Leistung, des Herausragens als Kind nicht ausreichend vertraut gemacht worden ist, wird das Bewusstsein blasser Durchschnittlichkeit vielleicht hinnehmen wie eine zu große Nase oder zu dünnes Haar. Andere wieder reagieren darauf mit den bekannten Fluchtbewegungen, die von exzentrischer Kleidung über exzentrisches Leben bis hin zur ehrgeizigen Suche nach einem Selbst reichen können, das im eigenen Innern vermutet wird wie ein prächtiger verborgener Schatz, welchen die gnädige Psychoanalyse auch dem letzten Trottel zugesteht. Und die Sensiblen reagieren mit einer Depression.
Schon ein paar Tage nachdem Canisades die herrlichen Erlebnisse der Nacht dem gesamten Kollegen- und Bekanntenkreis weitererzählt hatte, stand Polidorio vor seinem Fach mit der Nummer 703 und sah, dass irgendein Witzbold mit Kugelschreiber aus der 7 eine 1 und aus der 3 eine 2 gemacht hatte.
Achtundzwanzig Jahre lang hatte er keinen Gedanken an die Höhe und Messbarkeit seiner Intelligenz verschwendet — jetzt dachte er manchmal an nichts anderes mehr.
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