Aber es war kein Misserfolg. Um ein Uhr nachts kratzten im Studentenwohnheim Fingernägel auf Holz. Paul Newman hatte einen Blumenstrauß in der Hand, der aussah wie auf dem Friedhof zusammengeklaubt, und wirkte erleichtert, als Helen die Blumen achtlos ins Waschbecken warf und eine weitere Flasche Wein entkorkte. Bei Sonnenaufgang gestand er schluchzend, eine Verlobte zu haben, erntete als Reaktion ein Schulterzucken, und sie sahen einander nicht wieder.
Im weißen Frotteebademantel schlich Helen über die Gänge des Studentenwohnheims, stieg mit hängendem Kopf zwei Treppen hoch und klopfte bei ihrer besten Freundin Michelle Vanderbilt. Oder vielleicht nicht ihrer besten, aber ihrer ältesten Freundin. Michelle und Helen kannten sich seit der Grundschule, und vom ersten Tag ihrer Freundschaft an bestand ein starkes und unveränderliches Machtgefälle zwischen den beiden Mädchen.
Eine der frühesten, entsetzlichsten und exemplarischsten Erinnerungen: die Sache mit dem Kanarienvogel. Vielleicht in der dritten Klasse, vielleicht sogar noch früher. Da saßen sie zwischen lauter Spielsachen auf dem Boden, als sie aus dem Nebenraum einen furchtbaren Schrei hörten. Michelles jüngerer Bruder. Sekunden später kam ein kleiner, gelber Federball über die Türschwelle zum Kinderzimmer gehüpft. Das Köpfchen hing schlaff pendelnd zur Seite. Michelle sprang panisch auf, der Federball schwirrte wie vom Windstoß getroffen zur Seite, kullerte in den Flur hinaus und näherte sich gefährlich der Treppe. Helen vertrat ihm den Weg. Der kleine Bruder rannte hysterisch hin und her. Mrs. Vanderbilt sank wie ohnmächtig auf einen Stuhl, streckte abwehrend beide Hände aus, und Michelle schrie Helen an: «Jetzt hilf ihm doch! Jetzt hilf ihm doch!»
Die achtjährige Helen, die keine Haustiere besaß und auch diesen Vogel noch nicht außerhalb des Käfigs gesehen hatte, hob ihn vorsichtig auf und hielt das Köpfchen mit einem Finger hoch. Es fiel hinunter. Sie schlug vor, das Tier ins Bett zu bringen oder seine Wirbelsäule mit Streichhölzern zu schienen. Niemand reagierte. Schließlich ging sie in das Vanderbilt’sche Wohnzimmer und schlug im Lexikon nach. Sie hangelte sich von Kanarienvogel über Notfall, Genickbruch und Fraktur bis zur Querschnittslähmung. Sie schlug Michelle vor, einen Arzt anzurufen oder eine Freundin, die ebenfalls einen Vogel hatte.
Am Ende schaffte Mrs. Vanderbilt es, einen Veterinär ans Telefon zu bekommen, der riet, das Tier von seinen Leiden zu erlösen. Die Dame des Hauses hielt den Telefonhörer weit von sich weg in die Luft, wiederholte laut die Worte des Arztes und sah sich hilfesuchend um. Doch kein Mitglied der Familie Vanderbilt war imstande, das Notwendige zu unternehmen, und so erbarmte sich schließlich Helen des Elends. Sie fegte den Vogel sacht in eine Plastiktüte, setzte beide Knie auf die Öffnung und schlug so lange mit einem Band der Encyclopædia Britannica auf das Dreidimensionale der Tüte, bis es zweidimensional war. Anschließend begruben sie das flache Ergebnis im Garten. Mrs. Vanderbilt stand weinend hinter der Gardine.
Es war mit Furcht gemischte Bewunderung, die Michelle an diesem Tag für ihre neue Freundin empfand, und dies blieb auch in den folgenden Jahren ihr beherrschendes Gefühl Helen gegenüber. Gelegentlich (und besonders während der Pubertät) kamen zu dieser Ehrfurcht noch eine Reihe anderer, sich abwechselnder Gefühle hinzu, Verständnislosigkeit, Schwärmerei, Wut, Eifersucht, vorsätzliche Kühle, fast Mitleid … und dann wieder noch größere Ehrfurcht und aufrichtige Liebe — sämtlich in ihrer Intensität gesteigert dadurch, dass das Objekt dieser widersprüchlichen Gefühle niemals auch nur den geringsten Unterschied zu bemerken schien.
Und so war der Tag nach der Filmvorführung ein ganz besonderer Tag für Michelle. Es war der erste und einzige Tag, an dem sie ihre Freundin schwach sah. Ein Häuflein Elend kam da im weißen Bademantel in ihr Zimmer geschlurft und verlangte nach Kräutertee und Zuwendung. Überwältigt von der Gelegenheit stieß Michelle das Messer in die Wunde und drehte es um: Das ginge doch jedem so, rief sie, jeder sei zunächst erschüttert, auch sie, Michelle, sei erschüttert gewesen, als sie neulich einmal zufällig ihre eigene Stimme auf Tonband gehört habe. Freilich kämen bei Helen noch die Bewegungen hinzu, und in Verbindung mit der Mimik sei das etwas, das man tatsächlich, wenn sie ehrlich sei … doch wenn man all die Jahre diesen Anblick … und es sei ja auch der Sinn von Freundschaft … letztlich gewöhne man sich. Und sie persönlich jetzt: wirklich kein Problem.
Michelle war in den Seminarräumen keine große Rhetorikerin, aber unter vier Augen und im herzlichen Gespräch konnte sie Textblöcke von beachtlichem Umfang in den Raum stellen. Auch wenn es in ihren Augen nur eine Lappalie war (Liebeskummer, Misserfolg oder eine Erkrankung der Hauskatze hätten sie mehr angestachelt), redete sie fast zwei Stunden ununterbrochen über das, was sie später die «Tonband-Sache» nannte.
Helen überhörte den gesamten Inhalt der Botschaft und nahm als Einziges deren Länge wahr. Man kann nicht zwei Stunden lang über etwas reden, sagte sie sich, das kein gravierendes Problem darstellt.
Einige Monate lang übte sie mit einem Diktaphon schnellere, klarere Aussprache, ohne Erfolg. Gleichzeitig suchte sie, um ihren Bewegungen das Gezierte und Schleppende auszutreiben, nach einer Sportart, die, wie sie annahm, allem zuwiderlief, was ihr Spaß machen oder ihrem Körper angemessen sein könnte, und kam auf Karate. Als eine von zwei Frauen schrieb sie sich für einen Kurs an der Uni ein und begriff nach vier Wochen, dass man vieles im Leben ändern kann, aber nicht gewisse physiologische Gegebenheiten. Helen wurde kräftiger und geschickter, doch an der Art ihrer Bewegungen änderte das nichts. Sie war Mae im Keiko-Gi, Mae beim Yoko-geri, Mae auf der Matte. Es war eine deprimierende Zeit.
Trotz der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen gab sie das Karate nicht auf. Als der Kurs an der Uni eingestellt wurde, wechselte sie in eine professionelle Sportschule. Dort war sie die einzige Frau, und ihr fiel die unverminderte Aufmerksamkeit aller anderen Kursteilnehmer zu, fast ausnahmslos Polizisten aus einer nahen Akademie.
Als sie ihr Studium beendete, hatte sie zwei Abtreibungen hinter sich, besaß den Schwarzen Gürtel in zwei Kampfsportarten, hatte drei oder vier Polizisten zum Freund und keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Hervortretende Wangenknochen und erste Fältchen um Mund und Augen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Härte, die nicht das war, was sie sich einst als Kur gegen ihr Selbst verordnet hatte, aber auch nichts völlig Unpassendes. Sie schminkte sich.
«Hör auf deine innere Stimme», riet Michelle, aber im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Helen eine solche Stimme in ihrem Innern nirgends entdecken. Der bürgerlichen Existenz stand sie fremd gegenüber, und hätte sie die Art und Stärke ihrer Empfindungen mit denen anderer Menschen vergleichen können, wie es für die meisten Fünfundzwanzigjährigen kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, so hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie gefühlskalt war. Situationen, in denen andere schwelgten, bedeuteten ihr so wenig wie impressionistische Postkarten, ein Wurf junger Katzen oder Grace Kellys Verlobung, und ein unaufmerksamer Beobachter hätte sie für insgesamt leidenschaftslos halten können. Aber ihre Tagträume waren erfüllt von sonderbaren Bildern. Der Feuerwehrmann, der zwei röchelnde Kinder aus dem brennenden Haus schleppt, das hinter ihm zusammenbricht … der Flieger, der, seinen Cowboyhut schwenkend, breitbeinig auf der Atombombe zu Tal reitet … der gekreuzigte Spartakus, von Jean Simmons beweint … please die, my love, die now … sie bevorzugte das heroische Sujet.
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