Eine Frau huschte vorbei und nahm Muddel den Mantel ab.
— Wenn am Hintereingang kein Platz mehr ist, bringst du den Mantel in den Keller, rief die Urgroßmutter der Frau mit durchdringender Stimme hinterher. Dann wandte sie sich wieder ihnen zu.
— Grauenhaft, sagte sie.
Markus hatte keine Ahnung, was sie meinte.
— Ich bin am Ende, sagte die Urgroßmutter, ich bin wirklich am Ende.
Sie schlug die Hände vors Gesicht, verharrte einige Augenblicke in dieser Haltung, bis es Markus unbehaglich zu werden begann. Plötzlich sagte sie:
— Kein Wort! Ist das klar?
Ihre Stimme klang wieder durchdringend und scharf.
— Kein Wort über Ungarn! Kein Wort über irgendwas! Das muss hundertprozentig klappen! Ist das klar?
— Alles klar, sagte Muddel.
Die Urgroßmutter beugte sich vor, flüsterte jetzt beinahe:
— Er verträgt das nicht mehr.
— In Ordnung, sagte Muddel.
— Wunderbar, flötete die Urgroßmutter und strich Markus übers Haar. Du bist aber groß geworden!
— Er ist jetzt zwölf, sagte Muddel.
Die Urgroßmutter nickte.
— Melitta, nicht wahr, du bist Melitta?
— Ja, sagte Muddel. Genau.
Noch einmal strich die Urgroßmutter Markus übers Haar, schaute ihn lächelnd an, um dann, wiederum abrupt, fast ein bisschen irrsinnig, die Tonart zu wechseln:
— Vamos, sagte sie. Hundertprozentig! Ich verlasse mich auf euch.
Gleich beim Betreten des Raums musste er wieder an das Naturkundemuseum denken, so ausstellungshaft war alles, so irgendwie prähistorisch, und es roch auch so: staubig und streng und nach großem Ernst; ringsum standen, wie eh und je, schwarze, verglaste Regale, und schräg durch die große Schiebetür, welche die beiden Räume zu einer regelrechten Halle verband, sah man den Wintergarten, in dem, wie ihm jetzt einfiel, der Hauptteil der Schätze lagerte.
In der Mitte des Raums war eine aus verschiedenen (und verschieden hohen) Tischen zusammengestückelte Tafel aufgebaut, daran saßen schon eine Menge Leute. Sein Vater war nicht dabei. Auch Oma Irina konnte er auf den ersten Blick nicht finden; es waren zumeist alte, uralte Leute, die hier am Tisch saßen und diskutierten, eine Saurierversammlung mit Kaffee und Kuchen, dachte Markus, aber so aufgeregt durcheinanderkrächzend, als hätte man sie gerade alle aus ihrer prähistorischen Starre erweckt, damit sie alles, was sie in Millionen Jahren zu sagen versäumt hatten, heute nachholten.
Nur einer hockte abseits der großen Tafel, ganz links in der Ecke, im Schatten des durch die Terrassentür einfallenden Lichts: ein Saurier, der die Wiederauferstehung nicht ganz geschafft hatte — tatsächlich erinnerte die ineinandergeschobene Knochengestalt mit ihren bis zu den Ohren aufragenden Knien, den über die Seitenlehnen hängenden Flügelarmen und der riesigen langen Schnabelnase an den fossilen Abdruck jenes ausgestorbenen Reptils, das Markus immer am meisten fasziniert hatte: Pterodactylus, Flugsaurier.
— Markus, sagte die Urgroßmutter zu dem Pterodactylus. Dein Urenkel.
— Gratuliere zum Geburtstag, murmelte Markus und hielt seinem Urgroßvater das Bild hin.
Der Pterodactylus hielt den Kopf schief, die Schnabelnase kreiste.
— Er hört nix mehr, flüsterte die Urgroßmutter.
— Ein Leguan, krächzte der Pterodactylus.
— Eine Wasserschildkröte, sagte Markus laut — auf eine weitere Präzisierung (dass es sich nämlich um das Abbild einer echten Karettschildkröte handelte) verzichtete er.
— Er sieht auch nix mehr, flüsterte die Urgroßmutter.
— Markus interessiert sich für Tiere, sagte Muddel.
Der Pterodactylus saß einen Augenblick reglos. Dann sagte er:
— Wenn ich tot bin, Markus, dann erbst du den Leguan dort im Regal.
— Cool, sagte Markus.
Dass ihm jemand etwas «vererbte», war ihm noch nie passiert, und er war nicht sicher, ob man sich dafür zu bedanken hatte, ob man sich überhaupt freuen durfte. Das hieße ja, sich auf Wilhelms Tod freuen. Aber Wilhelm sagte plötzlich:
— Oder nimm ihn am besten gleich mit.
— Jetzt gleich?
— Nimm mit, sagte Wilhelm, mit mir geht es sowieso nicht mehr lange.
— Aber erst allen guten Tag sagen, rief Muddel ihm hinterher.
Markus ging artig von einem zum anderen und ließ das immer wiederkehrende Der Urenkel, der Urenkel! über sich ergehen, peinlich, klar, aber irgendwie fühlte er sich auch geschmeichelt.
— Die Jugend, flötete eine blondierte alte Frau.
— Da sdrawstwujet, brüllte ein dicker, schwitzender Mann, dessen Gesicht schon ganz rot war vom vielen Reden.
Alle hoben ihr Glas und tranken auf die Jugend.
Opa Kurt drückte ihn sogar — nicht gerade üblich, normalerweise gehörte Opa Kurt eher zu denen, die unnötigen Körperkontakt mieden, was Markus durchaus zu schätzen wusste; überhaupt mochte er seinen Opa, und es tat ihm immer ein bisschen leid, wie Opa sich, wenn er hin und wieder bei seinen Großeltern zu Besuch war, mühte, ihm irgendwelche Spiele beizubringen, aus denen man etwas fürs Leben lernte . So war Opa Kurt: gutmütig, aber anstrengend.
— Wo ist denn Oma Ira, fragte Markus.
— Oma geht es nicht gut, sagte Opa Kurt.
— Ist sie krank?
— Ja, sagte Opa Kurt. So muss man es sagen.
Zum Schluss kam Baba Nadja dran. Ihm grauste ein bisschen vor ihrem Händedruck. Baba Nadja wohnte drüben bei Oma Irina, und wenn man dort zu Besuch war, musste man immer in ihr Zimmer und guten Tag sagen, und dort stank es gewaltig, ein bestimmter, leicht süßlicher Geruch, der einen regelrecht würgen ließ, sodass man versuchte, sofort wieder zu entkommen, sobald man seine Pflicht erfüllt hatte, aber da war die Falle schon zugeschnappt — Hände wie Kneifzangen, die alte Frau, sie packte einen, quasselte einen voll mit ihrem Russisch und zog einen, während die Atemluft knapp zu werden begann, aufs Bett, und ihre Zangenpfoten öffneten sich nicht eher, als bis man eine von ihren ekligen Pralinen gekostet hatte.
Sie meinte es gut, das war klar, und Markus ließ sich nichts anmerken, als er ihr jetzt die Hand reichte, unwillkürlich atmete er durch den Mund und setzte ein irgendwie freundliches Gesicht auf, entschlossen, den Schwall unverständlicher Laute über sich ergehen zu lassen — aber zu seiner Verblüffung sagte Baba Nadja nur ein einziges, zwar falsch (nämlich auf der letzten Silbe) betontes, doch verständliches Wort:
— Affidersin, sagte sie.
Auf Wiedersehen, sagte Markus erleichtert und machte sich auf den Weg.
Zuerst besichtigte er den Leguan, der nun sein Eigentum war: ein prächtiges Exemplar, ganz unbeschädigt, abgesehen von einer fehlenden Kralle. Der Schuppenkamm war ein bisschen verstaubt, und er freute sich schon darauf, ihn zu Hause mit einem feinen Pinsel säubern zu dürfen. Ob er den Leguan gleich in Sicherheit bringen sollte, wer weiß, vielleicht hatte Wilhelm nachher schon wieder alles vergessen — aber wohin? Und es gab ja auch Zeugen für die Schenkung. Er beschloss, seine Besichtigung fortzusetzen, Muddels stumme Aufforderung, sich mit an die Kaffeetafel zu setzen, ignorierend.
Wilhelms Zimmer war weniger interessant als der Wintergarten, abgesehen von dem Leguan und abgesehen vielleicht von dem großen Sombrero und dem Lasso und dem bestickten Ledergurt (mit Revolvertasche!), die in einer zugemauerten Türnische hingen. Dennoch nahm sich Markus die Zeit, alles noch einmal gründlich zu prüfen: das Silberzeug, Schalen und Aschenbecher, aber auch Sachen aus Gold oder aus blauem Kristall, wahrscheinlich sehr wertvoll, die sorgfältig drapiert in extra Abteilungen zwischen den Büchern herumstanden. Es gab auch eine russische Abteilung, darin eine von diesen ineinanderzuschachtelnden Holzpuppen, bemalte Holzlöffel und so ein gläsernes Ding, wo es schneite, wenn man es schüttelte, und mittendrin in dem Ding, winzig: der Kreml. Und Lenin, als Gipskopf, mit angeschlagenem Ohr.
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