— Das darf doch nicht wahr sein, sagte Irina.
— Mutter, sagte Sascha, du tust ja gerade so, als sei das ein Unglück.
— Was ist denn passiert, fragte Kurt.
Es gefiel ihm nicht: Muddel vor dem Badezimmerspiegel, Augenbrauen zupfend. Er beobachtete schon seit einer Weile, wie sie sich aufmotzte, normalerweise lief sie den ganzen Tag im karierten Hemd rum (am liebsten von Jürgen — solange es Jürgen noch gegeben hatte), und jetzt: Stöckelschuhe auf einmal, er hatte gar nicht gewusst, dass sie so was hatte, Stöckelschuhe, die Beinhaare hatte sie sich auch schon weggemacht mit diesem Wachszeug (Quäldinge), jetzt rupfte sie sich die Augenbrauen aus, weit vorgebeugt über das Waschbecken, man sah, wie sich unter dem Rock der Schlüpfer abzeichnete, grausam, man sah wirklich alles , so wollte sie da also hingehen, zu dem Geburtstag, bei dem, wie er wusste — und sie natürlich auch — , sein Vater sein würde. Nur, es gab auch etwas, das sie nicht wusste.
Hätte er es ihr sagen sollen? Sie hatte ihn nicht danach gefragt, nur irgendwie hintenrum, aber er hatte schon gewusst, worauf sie hinauswollte: Hat er denn gekocht für euch beide , solche Fragen. Wart ihr beide im Kino ? Ja, wir waren im Kino — aber zu dritt . Hatte er nicht gesagt. Mit seiner Neuen . Hatte er nicht gesagt. Mit seiner Tussi.
— Geh dich mal umziehen, sagte Muddel.
Markus rührte sich nicht, sah zu, wie sie anfing, sich die Wimpern zu tuschen, wie sie die Augen verdrehte, bis nur noch Weißes zu sehen war, wie sie, wenn ihr die Tränen kamen, mit den Augen klimperte, bis sie wieder was sah, und er wunderte sich, wie routiniert sie das alles machte, wie gekonnt sie sich jetzt die Lippen anmalte, wie sie danach — mit haargenau denselben Grimassen wie die Tussi — die Lippen aufeinanderpresste und diese Schnute machte, wie sie das Gel auf den Fingerspitzen verteilte und in die frisch gewaschenen Haare strich, wie sie am Ende alles ein bisschen verzottelte und in den Spiegel guckte, so schräg von unten, mit genau diesem Tussi-Blick — und obwohl er sich darüber wunderte, dass Muddel diese Dinge beherrschte, obwohl es ihm sogar ein kleines bisschen imponierte, mochte er nicht daran denken, wie sich die beiden heute nachmittag auf dem Geburtstag begegnen würden: die Tussi und Muddel.
— Zieh dir doch mal dein Hemd an, sagte Muddel, wir verpassen den Bus.
— Ich zieh kein Hemd an, sagte Markus.
— Na gut, sage Muddel, dann geh ich eben allein.
Sie betupfte die gezupften Stellen mit einem Wattebausch; Markus wandte sich ab und verdrückte sich in sein Zimmer.
Der kürzeste Weg führte über den Innenhof, wo zwischen hohen Stockrosen Muddels Ausstellungsstücke standen. Sein Zimmer lag im mittleren Teil des Vierseitenhofs, der eigentlich nur drei Seiten hatte, direkt über der Werkstatt, manchmal hörte er abends noch die Töpferscheibe grummeln. Er nahm die zwölf Stufen in fünf geübten Sätzen und knallte sich aufs Bett: aufs untere Bett, es war ein Doppelstockbett, Jürgen hatte es noch gebaut, damit Markus und Frickel zusammen übernachten konnten, aber Frickel war weg, Frickel war mit seinen Eltern im Westen, und seitdem Frickel weg war, war es öde geworden in Großkrienitz. Die besten Mädchen der Klasse wohnten in Schulzendorf, da brauchte man ein Moped. Wenn er vierzehn war, bekam er vielleicht eins, falls sie Geld hatten, sagte Muddel, aber jetzt mussten sie erst mal für einen Feuerbrandofen sparen, dann, sagte Muddel, würden sie richtig Geld verdienen. Allerdings hatte sie das schon öfter gesagt, richtig Geld verdienen, und jetzt hatte Jürgen das Auto mitgenommen, und das kotzte ihn auch an: die Zuckelei immer. Großkrienitz lag wirklich am Arsch der Welt, und bis Neuendorf musste man zweimal umsteigen.
Er horchte, ob Muddels Schritte schon auf der Stiege zu hören waren. Was, wenn sie tatsächlich allein losging?
Was ihn wankelmütig machte, war der Gedanke an die Dinge, die es im Haus seiner Urgroßeltern zu besichtigen gab. Nur zu gut erinnerte er sich an die große Muschel im Flur, an die Kobrahaut im Wintergarten (die seine Urgroßmutter fälschlicherweise für eine Klapperschlage hielt), an die Säge des Sägefischs (eigentlich eines Sägerochens), an den ausgestopften Katzenhai und besonders natürlich an den nicht ganz ausgewachsenen Schwarzleguan in Wilhelms Regal — ein bisschen war es wie im Naturkundemuseum in Berlin: Anfassen durfte man auch nichts.
Ansonsten waren seine Urgroßeltern komische Leute. Irgendwann, es war lange her, hatten sie gegen Hitler gekämpft, illegal, Nazizeit — hatten sie in der Schule gehabt, Wilhelm war sogar mal in seiner Klasse gewesen und hatte von Karl Liebknecht erzählt, wie sie zusammen auf dem Balkon gesessen und die DDR gegründet hatten oder so ähnlich, verstanden hatte es keiner, aber gewundert hatten sie sich doch, was für einen berühmten Urgroßvater er hatte, sogar Frickel. Ansonsten war er schon ziemlich komisch. Ombre , sagte er immer, Ombre , was soll der Scheiß, und die Uromi sagte Pipi machen statt pinkeln, behandelte ihn wie einen Dreijährigen, aber wunderte sich, wenn er die Hauptstadt von Honduras nicht kannte: He, Mann, was ist denn Honduras ? Eine Motorradmarke?
Jetzt waren Schritte zu hören, er hatte es geahnt: dass es eine leere Drohung gewesen war.
— Markus, es ist sein Neunzigster. Vielleicht ist es sein letzter.
— Mir doch egal, sagte Markus und pustete den Traumfänger an, der über ihm am Lattenrost des oberen Bettes hing.
— Das macht mich ein bisschen traurig, dass du so redest, sagte Muddel.
— Ich hab überhaupt kein Geschenk, schrie Markus.
— Ach, ist doch egal, sagte Muddel.
— Das ist überhaupt nicht egal.
Muddel überlegte einen Augenblick und hatte, wie immer, sofort eine Lösung:
— Schenk ihm doch eins von deinen Schildkrötenbildern!
Großkrienitz, Dorfkern hieß die Haltestelle. Ihr Hof lag am Dorfrand, sogar etwas außerhalb. Er ging drei Meter hinter Muddel: Sicherheitsabstand, damit sie sich nicht bei ihm einhakte.
Sie gingen über die toten Gleise, vorbei an der ehemaligen Feuerwehrgarage, wo jetzt irgendwas von der LPG lagerte, vorbei an der Baustelle, wo immer, jedes Wochenende, der Betonmischer röhrte, ohne dass jemals irgendeine Veränderung sichtbar wurde, vorbei an dem von Enten zugeschissenen Dorfteich, vorbei am Konsum, wo sie sich, Frickel und er, manchmal nach der Schule ein Stangeneis gekauft hatten, vorbei an den niedrigen alten Großkrienitzer Häusern, die man für tot hätte halten können, wenn sich nicht hin und wieder im Fenster die Gardinen bewegt hätten. Natürlich war ihm egal, was die Dorf-Iddis dachten, trotzdem war er ganz froh, dass Muddel jetzt wenigstens einen Parka über ihren Klamotten trug, auch wenn der Parka kaum bis über den Rock reichte. Weiter unterhalb blitzten im Sekundentakt ihre gemusterten Waden auf, und man sah und hörte die Stöckelschuhe auf dem stark ramponierten Gehweg von Großkriewitz.
Falls es ihm gelang, dachte Markus, bis zur Bushaltestelle auf keine Fuge zu treten, dann fiel der Bus aus. Hier fiel öfter ein Bus aus, auf der Strecke verkehrten noch die alten Ikarus-Busse mit Heckmotor, und wenn dieser Bus ausfiel, war die Sache erledigt, denn sonntags fuhr der nächste erst in zwei Stunden. Allerdings durfte man auch auf keine gesprungene Gehwegplatte treten, der Sprung galt als Fuge, und das war nicht so leicht. Muddel beschleunigte den Schritt, und Markus musste sich ziemlich konzentrieren.
Schon von weitem hörte er das Probengeklimper, das aus der Kirche kam, er brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, wen Muddel grüßte.
— Nanu, rief Klaus. Wohin soll es denn gehen?
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