Irina wusch die geschälten, aber ungeteilten Kartoffeln (auf ungeteilte Kartoffeln legte sie Wert!), goss das Waschwasser ab, salzte die Kartoffeln und schwenkte sie bei geschlossenem Topf, um das Salz zu verteilen. Dann goss sie vorsichtig eine Tasse Wasser hinzu, wobei sie den Topf schräg hielt, um das Salz nicht wieder abzuspülen. Nur eine Tasse! Kartoffeln, wenn sie nach Kartoffeln schmecken sollten, gehörten gedünstet, nicht gekocht.
Sie setzte das Kloßwasser auf und begann die anderen, schon gekochten und abgekühlten Kartoffeln für den Kloßteig zu reiben, als die Kinder eintraten.
— Wir decken den Tisch, sagte die Neue.
— Wir decken den Tisch, sagte Sascha.
— Ihr wisst doch gar nicht, wo das Geschirr steht.
— Ich weiß es, sagte Sascha.
— Alexander deckt den Tisch, sagte die Neue, und ich kann ja die Klöße formen.
— Das mach ich selbst, sagte Irina.
Aber Sascha kramte schon im Besteckkasten, nahm natürlich das falsche Besteck, und als Irina ihm das richtige in die Hand drückte, formte die Neue — mit ihren nicht sonderlich gepflegten Fingernägeln — bereits die Klöße.
— Aber die Weißbrotwürfel müssen noch rein, sagte Irina.
— Ich weiß, sagte die Neue. Meine Oma kommt doch aus Thüringen!
Irina widmete sich notgedrungen ihrem Rettichsalat, häckselte Walnüsse, vermischte alles mit süßer Sahne, schmeckte es ab.
— Ist schon Salz im Kloßwasser, fragte die Neue.
Herrje, das hätte sie beinahe vergessen. Und die Gans übergießen, verdammt, sie war vollkommen aus dem Rhythmus!
Rasch nahm sie die Topflappen, zog die Gans aus der Röhre und kippte die Kasserolle an, um den brodelnden Bratensaft aus der Tiefe zu schöpfen.
— Die ist ja ganz schwarz, sagte die Neue.
— Das ist Klostergans, erwiderte Irina.
Tranchiert wurde am Tisch, die Verteilung erfolgte gemäß der jeweils anfallenden Teile: zuerst die Keulen — eine bekam Sascha, so weit war die Sache klar. Die zweite Keule bot sie der Neuen an. Kurt und die beiden älteren Herrschaften aßen sowieso lieber Brustfleisch.
Die Neue schaute zu Sascha: Ob er denn nichts gesagt habe?
— Ach ja, sagte Sascha, Melitta ist Vegetarierin.
— Wie — Vegetarierin?
— Mama, sie isst kein Fleisch.
— Aber das ist doch Geflügel, sagte Irina.
— Ein kleines Stückchen probier ich mal, sagte die Neue. Aber nicht gleich die Keule.
Irinas Blick machte die Runde — und fiel auf Nadjeshda Iwanowna: Auch du wirst heute Weihnachtsgans essen .
— Reich mal den Teller, sagte sie.
Nadjeshda Iwanowna reichte den Teller. Irina gabelte die Keule auf, aber an der Gabel blieb nur ein Stück Kruste hängen. Sie tat Nadjeshda Iwanowna die Kruste auf, um im zweiten Versuch die Keule nachzulegen — aber in diesem Augenblick zog Nadjeshda Iwanowna den Teller weg.
— Ich habe schon genug!
Die Keule plumpste aufs Tischtuch.
— Nu tschjort poderi!
Fluchen konnte Irina noch immer nur russisch.
Nadjeshda Iwanowna bekreuzigte sich. Irina knallte ihr die Keule auf den Teller.
Ein paar Augenblicke herrschte ungewohntes Schweigen am Tisch, bis Charlotte, die sich offenbar durch den Vorfall an die Existenz von Nadjeshda Iwanowna erinnert fühlte, zu plaudern begann, in einer Tonart, so betont harmlos, dass es Irina schon fast beleidigte:
— Nadjeshda Iwanowna, kak nrawitsja wam u nas — wie gefällt es Ihnen bei uns?
— Aber ich war doch schon hier, sagte Nadjeshda Iwanowna.
— Ja, sagte Charlotte, aber jetzt wohnen Sie hier, jetzt haben Sie Ihr eigenes Zimmer.
— Schönes Zimmer, sagte Nadjeshda Iwanowna, alles gut. Nur den Fernseher hätten wir lieber in Moskau kaufen sollen.
— Aber Mama, mischte Irina sich ein, ich habe dir doch einen Fernseher gekauft! Du hast doch einen Fernseher!
— Ja, sagte Nadjeshda Iwanowna. Aber es wär doch besser gewesen, wir hätten ihn in Moskau gekauft.
— Ein Unsinn, sagte Irina. Als ob wir nicht schon genug Gepäck gehabt hätten! Und überhaupt, der Fernseher, den ich dir gekauft habe, ist doch viel besser als alles, was wir in Moskau gekriegt hätten.
— Ja, aber hätten wir ihn in Moskau gekauft, sagte Nadjeshda Iwanowna, hätte er Russisch gesprochen.
Alle lachten, Wilhelm sogar zweimal: einmal, als alle lachten, und einmal, als Sascha ihm den Dialog übersetzte. Dann sagte er:
— Aber grundsätzlich gibt es auch in der Sowjetunion sehr gute Fernseher.
Wieder trat Schweigen ein.
Dann sagte die Neue:
— Also, ich muss mal sagen: Es schmeckt wahnsinnig toll. Ich hab noch nie so guten Grünkohl gegessen!
— Vorzüglich, sagte Charlotte, die angeblich schon den ganzen Tag hungerte, sich aber dennoch nur Mäuseportionen auftun ließ.
— Also ich kann das Fleisch nicht kauen, sagte Wilhelm.
Und Kurt sagte:
— Das Fleisch ist vorzüglich. Nur die Kartoffeln sind, ehrlich gesagt, nicht hundertprozentig durch.
Dann friss Klöße, dachte Irina, sagte aber nichts. Würgte den Ärger hinunter. Das war es eben: Hätte sie selber den Tisch gedeckt, wäre alles genau auf den Punkt. Aber wenn andere in ihrer Küche herumpfuschten …
Sie kostete ein Stück Gans (sie hatte sich bisher kein Fleisch aufgetan, weil sie von den Innereien schon satt war) — und tatsächlich: Die Gans hätte noch zarter sein können.
Den Rettichsalat aß keiner.
Immerhin hatte sie mit der roten Grütze Erfolg.
Abräumen:
— Gebt die Teller her und bleibt sitzen, ordnete Irina an, so bestimmt, dass auch die Neue nicht aufzustehen wagte.
Nadjeshda Iwanowna säbelte noch immer, und zwar vergeblich, an ihrer Keule herum: Sie wurde nicht kleiner. Wilhelm hatte die Als-wir-damals-in-Moskau-waren-Platte aufgelegt.
Irina brachte die Trümmer ihrer Gans in die Küche.
Räumte Rotkohl und Grünkohl ab.
Auch von den Klößen war mehr als die Hälfte übrig.
Sie setzte sich auf den einzigen Küchenstuhl, steckte sich eine Zigarette an.
Ein Bild kam ihr in den Sinn: Oma Marfa, Mutter Nadjeshda und sie — drei Gestalten, stumm über einen Kessel gebeugt, in dem, zwischen Kraut, graue Schweinefleischstreifen schwammen.
Wieso war man Vegetarier? War die Frau krank? Oder hatte sie Mitleid mit den Tieren?
Sascha kam in die Küche:
— Na, komm schon, wir rauchen eine zusammen.
Er nahm eine «Club» aus ihrer Schachtel, Irina hielt ihm das Feuerzeug hin.
— Bist du traurig, Mama?
— Nein, warum?
Sie rauchten schweigend ein paar Züge. Irina kam der Verdacht, die Neue hätte Sascha geschickt.
— Warum ist sie denn Vegetarierin?
— Sie ist ja nicht richtig Vegetarierin, sie isst auch manchmal Fleisch.
— Aber man braucht doch Fleisch, sagte Irina. Der Mensch braucht doch Fleisch!
— Mama, du kannst doch einen Menschen nicht deswegen ablehnen.
— Aber ich lehne sie doch nicht ab, ich frage bloß!
Sie rauchten.
— Ein nettes Mädchen, sagte Irina.
— Ja, ist sie, sagte Sascha.
Sie rauchten.
— Für mich ist das Wichtigste, dass du glücklich bist, sagte Irina.
Draußen fielen ein paar vereinzelte Schneeflocken. Fielen in den von der Dämmerung schon geschwärzten Garten, verschwanden.
Sascha drückte seine Zigarette aus.
— Soll ich was helfen?
— Ach, Sascha. Geh mal rein, ich koch jetzt Kaffee.
Sascha nahm Irina an den Schultern, zog sie hoch und drückte sie.
— Ach, Saschenka, sagte Irina.
Schön war es, einen so großen Sohn zu haben — der immer noch roch wie ein Kleinkind.
Irina setzte Kaffeewasser auf, füllte die Reste in kleinere Schüsseln, ließ die Klöße in der großen Schüssel, weil sie keine passende fand. Stellte die geschlossene Kasserolle mit den Resten der etwas zu festen Gans in die Speisekammer. Stapelte neben der Spüle das benutzte Geschirr.
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