Den geringsten Teil dieses Kaviars verzehrten Kurt und Irina selbst (ihr Kaviarappetit hielt sich in Grenzen, denn obwohl es in Slawa kaum ausreichend Lebensmittel gegeben hatte, war dort, ausgerechnet im Sommer nach Stalins Tod, ein ganzer Güterwaggon schwarzen Kaviars angekommen, «auf Zuteilung», wie es hieß, und Kurt und Irina hatten sich derart an Kaviar überfressen, dass Irina eine Art anaphylaktischen Schock erlitt und danach monatelang in der Angst lebte, das Kind, das sie unmittelbar nach Stalins Tod gezeugt hatten, durch übermäßigen Kaviarverzehr geschädigt zu haben) — den geringsten Teil also verzehrten sie selbst; einen größeren Teil boten sie — typischerweise nach ausschweifenden Partys — Freunden zum Sektfrühstück an; der größte Teil des Sobakin’schen Kaviars jedoch ging als Schmier- und Zahlungsmittel in den undurchsichtigen Kreislauf der unter Ladentischen und in Hinterzimmern gehandelten Waren ein.
In der Galerie am Stern erstand Irina gegen Zuzahlung von Kaviar mehrere Stücke der begehrten Waldenburg-Keramik, Ofenbrand mit bräunlichen Flugascheresten, die sie wiederum als Schmiermittel beim Erwerb von Dachfenstern verwendete; einen Teil der Dachfenster, die sie selbst nicht benötigte, brachte sie mit dem Pkw-Anhänger nach Finsterwalde und tauschte sie dort gegen etwas breitere Dachfenster (100 cm) ein, welche alsbald Fischer Eberling aus Großzicker auf Rügen abholte und dafür eine Kiste Aal hinterließ, den er — natürlich illegal — in einer hinter der Garage versteckten Kammer geräuchert hatte.
Zwei dieser Aale verspeiste Nadjeshda Iwanowna, die erst kürzlich in der DDR eingetroffen war und ihre Anspruchslosigkeit unter Beweis stellen wollte (Esst ihr mal das gute Brot, für mich sind die Schlangen gut genug); drei Aale hob Irina für Sascha auf, der sie allerdings, wie er sagte, «aus Respekt vor dem Lebenswillen dieser Tiere» nicht essen wollte (früher hatte er immer Aal gegessen!); drei Räucheraale bekam der Fleischer, der Irina die berühmten «blinden Pakete» packte, deren Inhalt (aus Rumpsteaks, geräucherten Schweinefilets oder gekochtem Schinken bestehend) den anderen Kunden nicht offenbart werden durfte; drei bekam der Autoschlosser; einen der Buchhändler; und zwei schließlich eine ehemalige Kollegin, aus deren väterlichem Kleingarten jene getrockneten Aprikosen stammten, außerdem Quitten und dickschalige Winterbirnen, die Irina schälte und würfelte und zusammen mit den schon eingeweichten Aprikosen sowie halbierten Feigen aus dem Russenmagazin, Rosinen (die sie anstelle von Weintrauben benutzte), Esskastanien (die sie eigenhändig auf den Caputher Hügeln gesammelt hatte) und etwas strunkigen, deshalb feingeschnittenen Kuba-Orangen (die sie schlicht und einfach im Laden gekauft hatte!) in eine Pfanne gab, in reichlich Butter andünstete, mit armenischem Kognak ablöschte und als Füllung in ihre Weihnachtsgans stopfte, die sie nach einem dreihundert Jahre alten Rezept zubereitete und die, weil das Rezept angeblich von burgundischen Mönchen stammte, Burgundische Klostergans hieß.
Obwohl die Gans gut fünf Kilo wog, überfiel Irina, als sie das ausgenommene, gewaschene, gesalzene, angestochene und gefüllte Tier in den Ofen schob, die schreckliche Frage, ob es für alle reichen würde. Sie rechnete die Personen zusammen, es waren sieben: Außer Charlotte und Wilhelm war in diesem Jahr noch ihre Mutter dabei; und Sascha kam mit seiner Neuen.
Irina beschloss, auch die Innereien zu braten: Herz, Magen, Leber. Gewöhnlich briet sie die Innereien erst am nächsten Tag und verzehrte sie zusammen mit den aufgewärmten Resten der Gans im Laufe der Weihnachtsfeiertage — ein Hochgenuss! Irina liebte die bissfesten Magenwände und den süßlichen Lebergeschmack, wohingegen Kurt Innereien verabscheute, ebenso das Abnagen von Knochen; und auch Aufgewärmtes schätzte er nicht, wenngleich er es nicht zugab. Aber sie kannte ihn: Er aß nicht gern an zwei Tagen das Gleiche.
Irina schnitt die Innereien in Portionshäppchen, würzte sie kräftig mit Pfeffer, warf sie in eine Pfanne mit heißem Kokosfett und ließ sie auf kleiner Flamme brutzeln, während sie den Bratenfond vorbereitete, das Eigentliche, Wichtigste an der Klostergans: ein Gemisch aus Kognak, Honig und Portwein, das der Gans eine süße, halb aus Honig, halb aus Fruchtzucker bestehende, pechschwarze Kruste verlieh. — Nicht schlecht, wie die Mönche in diesem Burgund gelebt hatten. Wo war eigentlich Burgund?
Abgesehen von der burgundischen Gans war die Küche am Weihnachtstag deutsch. Außer Rotkohl und Grünkohl gab es noch Thüringer Klöße (die komplizierteste aller Kloßvarianten), Kartoffeln für Kurt, der keine Klöße aß, außerdem einen deftigen Rettichsalat als Vorspeise, rote Grütze als Nachspeise und selbstgebackenen Weihnachtsstollen zum anschließenden Kaffee — und das alles im Überfluss, denn nichts verabscheute Irina mehr als die Frage, ob es reichen würde. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie sich diese Frage gestellt. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie nach Brot angestanden; ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie halbverfaulte Kartoffeln gegessen (denn immer wurden die halbverfaulten Kartoffeln zuerst gegessen, sodass man schließlich immer nur halbverfaulte Kartoffeln aß); ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie bei Winterbeginn auf die ersten Starkfröste gewartet, weil das magere Schwein, das Oma Marfa das Jahr über mit Abfällen fütterte, in der Regel erst — dann aber in aller Eile — geschlachtet wurde, wenn ihm bei Außentemperaturen von minus fünfzig Grad in dem aus dünnen Brettern zusammengezimmerten Stall die Klauen erfroren waren.
Armes Schwein, dachte Irina.
Sie zupfte die äußeren Blätter des Rotkohlkopfs ab, nahm das große Messer, teilte, sich entschlossen auf den Messerrücken stützend, den Kopf in zwei Hälften und empfand noch einmal, einen Atemzug lang, Genugtuung darüber, dass sie alldem tatsächlich entronnen war: sie, Irina Petrowna, das Kind mit den schwarzen Locken, für die sie gehänselt wurde, weil sie verrieten, von was für einem sie gezeugt worden war.
Die Tür des Zimmers von Nadjeshda Iwanowna öffnete sich mit einem langgezogenen Krächzen. Ihre Mutter erschien in der Küche:
— Pomotsch tebje?
Ob sie helfen solle. Aber Irina brauchte keine Hilfe, im Gegenteil, es störte sie, wenn ihre Mutter ihr in die Töpfe guckte.
— Die Innereien lass für mich übrig, sagte Nadjeshda Iwanowna in einem Tonfall, der einem Befehl nahekam.
— Mama, sagte Irina, du brauchst hier bei uns keine Reste zu essen, begreif das doch mal.
Nadjeshda Iwanowna zog ab, ihre Tür krächzte — man musste endlich einmal dem Tischler Bescheid sagen, dachte Irina, denn es lag, das wusste sie, nicht einfach am Öl, sondern daran, dass das untere Scharnier am Türrahmen schrammte.
Sie nahm die Innereien vom Herd, würzte sie noch einmal mit Paprika (Paprika immer zum Schluss, sonst verlor er sein Aroma!), schwitzte dann den feingeschnittenen Rotkohl an, gab geriebenen Apfel dazu, ein bisschen Salz und eine Prise Zucker, legte die mit Nelken gespickte Zwiebel in den Topf, löschte alles mit Rotwein ab und ergänzte es mit heißem Wasser. Dann goss sie sich ein Bier ein — zum Kochen trank sie am liebsten Bier — und naschte schon mal ein wenig von den noch etwas zu heißen, aber köstlichen Innereien … Nein, es war nicht etwa so, dass sie ihrer Mutter die Innereien nicht gönnte. Die Sache war die, dass ihre Mutter es als ein Opfer ansah, die Innereien zu essen — und Irina war nicht bereit, dieses Opfer anzunehmen. Auch du isst heute Weihnachtsgans , dachte sie — und ertappte sich bei der Vorstellung, wie sie ihrer Mutter mit Gewalt ein Stück Gänsefleisch hineinstopfte …
Kurt erschien, im Arbeitshemd — als sei das Dekorieren des Weihnachtsbaums Arbeit . Sie solle mal gucken kommen.
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