Putzt sich die Zähne — neuerdings mit Mineralwasser, seit er im Internet gelesen hat, dass Non-Hodgkin-Lymphome mit einer höheren Anfälligkeit für Infekte verbunden sind. Und dann, wie ein Morgengebet, passiert auch der Text über die Lebenserwartung, den er im Internet gefunden hat, fast wörtlich sein halbwaches Bewusstsein:
Bezogen auf alle Non-Hodgkin-Lymphome, beträgt die durchschnittliche Fünfjahres-Überlebenszeit für Männer derzeit 62 Prozent, für Frauen 66 Prozent. Bei diesen Zahlen handelt es sich um Durchschnittswerte. Darin enthalten sind sehr viele Patienten, die zehn Jahre und länger überlebt haben. Aus den Durchschnittswerten auf die individuelle Überlebenszeit Rückschlüsse ziehen zu wollen hat deshalb keinen Sinn. Die Chancen auf ein möglichst langes Überleben steigen, wenn Patienten für eine gesunde Lebensweise sorgen.
Alexander fährt mit dem Fahrstuhl fünf Stockwerke abwärts. Neuerdings frühstückt er im Hotel. Statt fetter, unübersichtlicher Pampe im Café gegenüber rührt er sich ein Müsli zusammen, es gibt hier Joghurt und Früchte und mehrere Sorten Getreideflocken, wenngleich allesamt geröstet oder kandiert. Es gibt sogar Vollkornbrot, beinahe wie in einem Hotel in Europa. Alexander tut sich von allem auf, entschlossen, keine Appetitlosigkeit zu dulden.
Er setzt sich ans große Fenster. Nach einer Weile kommen die beiden Schweizerinnen — er hat sie im Hotel kennengelernt. Er weiß nicht genau, ob er wünscht, dass sie sich zu ihm setzen, aber die Frage ist schon entschieden, bevor er sich darüber klargeworden ist. Drei Tage einer flüchtigen, obendrein perspektivlosen Bekanntschaft reichen offenbar aus, um Verpflichtungen erwachsen zu lassen.
Übrigens ist nichts gegen die beiden einzuwenden. Sie heißen Kati und Nadja. Sie sind noch nicht dreißig. Sie tragen Flip-Flops. Und reisen gerade um die Welt. Sie waren, wie sich herausgestellt hat, schon zwei Monate in Afrika, dann in Brasilien, Argentinien, Feuerland, Chile, Peru, Ecuador und noch irgendwo. Jetzt sind sie eine Woche in Mexico City, De-Effe , wie sie fachkundig sagen, irgendwo unterwegs haben sie auch einen Sprachkurs gemacht. Von DF aus fahren sie mit dem Bus nach Oaxaca, von dort weiter nach San Cristóbal de las Casas oder Palenque (die Reihenfolge weiß er nicht mehr genau), jedenfalls: Wenn sie mit Mexiko fertig sind, werden sie nach Sydney fliegen, um mit dem Van den Südosten — oder war es der Nordwesten? — Australiens «unsicher zu machen», wie sie sagen, dann nach Neuseeland, um die Kiwis kennenzulernen, und schließlich nach Bangkok, von wo aus sie, falls sie nicht — einer Empfehlung ihres Backpackers folgend — noch einen Abstecher ins Mekong-Delta machen, nach Europa zurückkehren wollen.
Sie haben einen Round-the-world-Backpacker, wo alles drinsteht. Anhand dessen planen sie jeden Morgen die bevorstehende Tour. Gestern haben sie den Chapultepec-Park und das Anthropologische Museum besichtigt, und Alexander hat sich überreden lassen, sich ihnen anzuschließen, weil, wie der Backpacker zu berichten weiß, das Anthropologische Museum in Mexico City zu den besten Museen der Welt gehört, aber vielleicht auch, weil er sich von den Frauen angezogen fühlt — und abgestoßen: beides.
Es gibt, wie gesagt, nichts gegen die beiden einzuwenden. Kati, die jetzt als Erste an seinen Tisch kommt, ist eine nette, intelligente Person, jeder hier im Hotel würde sie wahrscheinlich als schön bezeichnen, und tatsächlich wäre es nicht überzeugend, ausgerechnet das strahlend weiße, ein wenig zu viel Zahnfleisch entblößende Lächeln als Gegenbeweis anführen zu wollen oder die ölig glänzenden, sauber enthaarten und, Herrgott, ein wenig gekrümmten Schienbeine, die unter ihrem braunen Glockenrock hervorschauen.
— Hello, sagt Kati und setzt sich zu seiner Linken an den quadratischen, weißgedeckten Tisch.
Sie spricht laut und reißt im Moment, als sie Alexander begrüßt, die Augen auf. Im krausen, frischgewaschenen schwarzen Haar trägt sie einen weißen, ihre Stirn umschließenden Reif — wie ein Hygieneartikel, der das Frühstück vor Haaren bewahren soll. Das Sonnenöl, das sie reichlich benutzt, ist noch nicht ganz eingezogen, und an dem hauchfeinen Schorf an der Nasenwurzel sieht man, dass sie die Stelle zwischen den gezupften Augenbrauen einzucremen vergessen hat.
— Und, wohin soll es heute gehen? fragt Alexander, befürchtet aber sogleich, seine Frage könnte nahelegen, er wolle sie auch heute begleiten.
— Wahrscheinlich zu Frida Kahlo, sagt Kati. Warst du schon da?
— Nee, sagt Alexander und versucht, desinteressiert zu wirken.
— Und Trotzki ist ja auch gleich da irgendwo in der Nähe, sagt Kati.
Jetzt kommt Nadja an den Tisch. Nadja ist etwas kleiner, überhaupt etwas «weniger» als ihre Freundin, hat weniger weiße, aber dafür wahrscheinlich echte Zähne und eine weniger eindeutige Haarfarbe. Dafür trägt sie ein pinkfarbenes, tief ausgeschnittenes Top mit einer unübersichtlichen, an Bondage erinnernden Trägerkonstruktion. Aber trotz dieser Auffälligkeiten verschwimmt sie irgendwie, ihre Bewegungen sind schleichend, sie schlüpft lautlos zwischen Stuhl und Tischplatte, der Gruß, der aus ihrem Mund herausweht, ist kaum mehr als ein Lufthauch, und ihr Blick huscht über Alexander hinweg — man weiß nicht, ob ignorant oder verstohlen. Irgendwie wundert es ihn, dass Nadja Kommunikationswissenschaft studiert. Außerdem studiert sie Germanistik, Psychologie, Indologie und ein bisschen Gesang (genau hat er das nicht verstanden), während Kati «nur» Jura, Politik und BWL-Touristik studiert, genauer gesagt: studiert hat.
— Was meinst du, fahren wir heute zu Frida Kahlo? fragt Kati in Richtung Nadja.
Nadja zupft an ihrem ständig verrutschenden Trägersystem, während ihr so etwas wie ein Schulterzucken unterläuft.
— Trotzki, erklärt Kati, ist auch gleich da in der Nähe.
— Trotzki? Nadja zieht die Oberlippe bis unter die Nase.
Kati fällt etwas ein:
— Trotzki war doch auch Kommunist. Wie deine Großmutter.
Unglücklicherweise hat Alexander den beiden von Charlotte erzählt. Die Tatsache, dass seine Großeltern Kommunisten waren, hat Kati mit einem tonlosen «Oh» quittiert, als habe sie versehentlich eine besetzte Toilette betreten. Jetzt findet sie es jedoch interessant:
— Vielleicht kannten die sich ja?
— Kaum, sagt Alexander.
Er könnte jetzt von Wilhelm erzählen. Von den Spekulationen um Wilhelms Geheimdiensttätigkeit, die Wilhelm immer dementierte, gleichzeitig aber zu schüren verstand, indem er, wenn es zum Beispiel um Trotzki ging, ein Gesicht machte, als ob es irgendetwas zu verheimlichen gäbe, wenngleich er wahrscheinlich erst kurz vor Trotzkis Ermordung, falls nicht überhaupt erst danach, in Mexiko eingetroffen war. Aber auch darüber gab es keine gesicherten Angaben. Er könnte auch erzählen, dass er, Alexander, im Haus seiner Großeltern einmal einem leibhaftigen Trotzki-Attentäter begegnet sei — und komischerweise stimmte dies tatsächlich, auch wenn er erst zwanzig Jahre nach dem DDR-Besuch jenes mexikanischen Malers, Alfaro Siqueiros, erfahren hat, dass dieser nicht einfach wegen seiner «engagierten Kunst» und seines «Einsatzes für die Sache der Arbeiterklasse» in Mexiko im Gefängnis saß, sondern weil er versucht hatte, Leo Trotzki mit einer Maschinenpistole umzubringen, wobei er sein Opfer unbegreiflicherweise verfehlte, obgleich er mitten in dessen Schlafzimmer stand.
Das könnte er sagen, sagt es aber nicht. Er holt sich noch etwas Toast und Kaffee und jetzt doch ein Frühstücksei. Spürt, als er wieder am Tisch ankommt, dass die beiden über ihren Tagesablauf entschieden haben — und fragt nicht danach. Fragt nicht und wird nicht gefragt. Ist jetzt doch ein bisschen gekränkt. Und ärgert sich darüber.
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