Er nickte: Schlamassel — das war es. Er biss seine, wie er sie nannte, volkseigenen Zähne zusammen, um dem Anflug von Melancholie entgegenzuwirken. So blieb er sitzen, bis das Wasser ihm an den Bauchnabel reichte.
Dass sein Rücken bei dieser Bräunungsmethode stets weiß blieb, störte ihn nicht. Niemand sah seinen Rücken.
Nach dem Baden rasierte er sich, wobei er zwei Finger auf seinen Oberlippenbart legte. Er litt zunehmend am grauen Star. Schon des Öfteren hatte er sich versehentlich ein Stück Bart wegrasiert, bis er schließlich zu der Zweifingermethode übergegangen war, um wenigstens den letzten Rest Bart zu bewahren.
Er zog die langen Unterhosen über die kurzen und legte eine Lage mehrfach gefalteten Klopapiers ein. Er zog die Socken an und befestigte sie an den Sockenhaltern. Bedauerlicherweise war der Umfang seiner Waden geringer als der Umfang der Sockenhalter, sodass Wilhelm nichts anderes übrigblieb, als die Sockenhalter, damit sie nicht rutschten, in die Socken zu stopfen.
Er stieg die Treppe hinunter. In seinem Kopf meldete sich wieder die Melodie: kämpferisch-traurig. Er biss die Zähne zusammen. Seine Kniegelenke schmerzten beim Abwärtsgehen. Seine Füße verschleppten den Takt.
Als er in der Diele die vielen leeren Blumenvasen sah, fiel ihm ein, dass er Geburtstag hatte. Anstatt, wie gewohnt, zuerst zum Briefkasten zu gehen, marschierte er in die Küche — bevor er seine Frage vergaß:
— Sind die Blumenvasen beschriftet?
— Herzlichen Glückwunsch, sagte Charlotte.
Sie sah ihn an, die Arme in die Hüften gestemmt, den Kopf auf typische Weise schräg haltend.
Sie sah aus wie ein Vogel.
— Ich weiß, dass ich Geburtstag habe, sagte Wilhelm.
Er setzte sich und löffelte seine Haferflocken. Sie schmeckten nach nichts. Er schob den Teller weg und griff nach seinem Kaffee.
— Vergiss nicht, deine Tabletten zu nehmen, sagte Charlotte.
— Ich nehm keine Tabletten, sagte Wilhelm.
— Du musst aber deine Tabletten nehmen, sagte Charlotte.
— Papperlapapp, sagte Wilhelm und stand auf.
Er marschierte zum Briefkasten, aber der Briefkasten war leer. Es war Sonntag. Am Sonntag gab es kein ND . Früher hatte es auch am Sonntag ND gegeben, aber das hatten sie abgeschafft. Schlamassel.
Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Wusste auf einmal nicht weiter — wieder so ein Moment. Wahrscheinlich lag es an den Tabletten. Schon seit einer Weile hegte er diesen Verdacht. Die Starre in den Gelenken. Die Leere im Kopf. Wer weiß, was für ein Zeug sie ihm gab. Die Tabletten machten ihn dumm. Sie machten ihn vergesslich. Sie machten ihn so vergesslich, dass er am Morgen vergaß, dass er sich am Abend vorgenommen hatte, keine Tabletten zu nehmen.
Die Angst, das Gedächtnis zu verlieren. Wilhelm versuchte sich zu erinnern, probehalber: aber an was?
Er ging zum Schrank und kramte den Schuhkarton heraus, in dem er, neben Orden und Medaillen, verschiedene Dokumente seines Lebens aufbewahrte. Er entnahm dem Karton einen Zeitungsartikel, der durch häufiges Falten bereits leicht beschädigt war. Er nahm die Lupe zur Hand und las:
Ein Leben für die Arbeiterklasse.
Darunter ein Bild, auf dem ein Mann mit kahlem Schädel und großen Ohren zuversichtlich in die Zukunft blickte.
Wilhelm fuhr mit der Lupe in die Mitte des Textes. Unter dem Glas rutschten, sich aufwölbend, die Worte hindurch:
… trat im Januar 1919 in die Kommunistische Partei Deutschlands ein …
Wilhelm überlegte. Natürlich wusste er, dass er 1919 in die Partei eingetreten war. Er hatte es in Dutzenden Lebensläufen geschrieben. Er hatte es Hunderte Male erzählt: den Genossen, den Arbeitern vom Karl-Marx-Werk, den Jungen Pionieren, aber wenn er zurückdachte, wenn er wirklich versuchte, sich an den Tag zu erinnern, dann erinnerte er sich eigentlich nur noch daran, wie Karl Liebknecht zu ihm gesagt hatte:
— Junge, putz dir doch mal die Nase!
Oder war es gar nicht Liebknecht gewesen? Oder war das gar nicht beim Eintritt in die Partei?
Charlotte kam: mit Wasserglas und Tabletten.
— Ich habe zu tun, sagte Wilhelm und strich, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, mit einem Rotstift den Artikel aus — wie er gewohnheitsgemäß alle Artikel ausstrich, die er gelesen hatte, damit er nichts zweimal las. Glücklicherweise bemerkte er seinen Fehler sofort und wendete das Blatt, bevor Charlotte den Schreibtisch erreichte.
— Wenn du deine Tabletten nicht nimmst, sagte Charlotte, rufe ich Dr. Süß an.
— Wenn du Dr. Süß anrufst, dann sage ich ihm, dass du mich vergiftest.
— Du bist ja vollkommen übergeschnappt.
Charlotte ging — mit Wasserglas und Tabletten.
Wilhelm blieb sitzen und betrachtete sein versehentlich ausgestrichenes Leben. Was nun? Eliminieren, sagte ihm sein konspirativer Instinkt. Er zerriss das Blatt und warf es in den Papierkorb … Zum Teufel damit. Das Wichtigste stand sowieso nicht drin. Das Wichtigste stand in keinem seiner Dutzend Lebensläufe. Das Wichtigste war sowieso ausgestrichen .
Sein anderes Leben. Lüddecke Import Export . Die Hamburger Zeit. Seltsam, daran erinnerte er sich ohne Mühe:
Sein Hafenbüro.
Nachts der Wind.
Das Versteck für seine Korowin Kaliber sechs fünfunddreißig — er würde es heute noch finden.
Jetzt war die Melodie wieder da. Er sah aus dem Fenster. Die Sonne schien. Der Himmel war blau, und zwischen den allmählich vergilbenden Blättern der Eberesche hingen in roten Dolden die Beeren. Ein schöner Tag. Ein herrlicher, wunderbarer Tag, dachte Wilhelm und biss seine Zähne zusammen. Versuchte, es wegzubeißen.
Wofür?
Wofür hatte er seinen Arsch riskiert? Wofür waren die Leute draufgegangen? Dafür, dass irgend so ein Emporkömmling jetzt alles zugrunde richtete?
Tschow, dachte Wilhelm: wie damals Chruschtschow. Seltsam, immerhin, dass beide mit «tschow» aufhörten.
Er nahm den Schuhkarton, ging zum Schrank. Die Orden klapperten, als er ihn hineinstellte.
Er ging in die Diele. Einen Augenblick überlegte er, was zu tun war. Als er die Blumenvasen sah, fiel es ihm ein. Er ging zurück in sein Zimmer und holte die Lupe. Dann griff er eine Blumenvase heraus. Auf der Blumenvase klebte ein Etikett. Auf dem Etikett stand — nichts. Er griff eine zweite Vase heraus: nichts. Er prüfte die dritte …
Wilhelm marschierte in den Salon.
— Da steht ja nichts drauf, sagte er.
— Wo steht nichts drauf?
— Auf den Blumenvasen.
— Du, ich hab jetzt wirklich Wichtigeres zu tun, sagte Charlotte.
— Verdammt, ich habe gesagt, die Blumenvasen werden beschriftet.
— Dann beschrifte sie doch, sagte Charlotte und nahm eine Tischdecke aus dem Schrank, ohne sich weiter um Wilhelm zu kümmern.
Gern hätte er Charlotte erklärt, dass das blödsinnig war: Jetzt konnte man die Vasen nicht mehr beschriften. Vorher hätte man die Vasen beschriften müssen, damit hinterher jeder wieder die richtige Vase zurückbekam. Aber es lohnte sich nicht, mit Charlotte zu streiten. Um mit Charlotte zu streiten, war seine Zunge zu schwer, und sein Kopf brauchte zu lange, um Worte aus seinen Gedanken zu machen.
Er marschierte zurück in die Diele. Was war jetzt zu tun? Er blieb stehen, betrachtete ratlos die Blumenvasen, die in Reih und Glied in der Garderobennische standen.
Plötzlich sahen sie aus wie Grabsteine.
Die Haustür ging, Lisbeth kam. Raschelte mit den Kleidern. Brachte den Herbstgeruch mit herein. In der Hand hielt sie einen Strauß Rosen.
— Herzlichen Glückwunsch, sagte sie.
— Lisbeth, du sollst kein Geld für mich ausgeben.
Lisbeth hielt ihm die Blumen hin, strahlte. Ihre Zähne waren ein bisschen schief. Aber ihr Hintern war stramm, und ihre Brüste schwappten durchs Dekolleté wie Wellen durchs Schwimmbecken.
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