Zehn Jahre Lagerhaft.
Wegen antisowjetischer Propaganda und Bildung einer konspirativen Organisation. Die Organisation waren: er und sein Bruder.
Jetzt war ihm der weiche Waldboden unter den Füßen auf einmal unangenehm. In der Ferne glaubte er das Bellen der Bauchsägen zu hören, das unheimliche Brüllen der Baumriesen, wenn sie, sich langsam um die eigene Achse drehend, zu Boden gingen. Und nach einer Weile kamen auch Bilder, flüchtig, zusammenhanglos: Zählappelle bei dreißig Grad minus; der morgendliche Anblick der vereisten Barackendecke, ein Anblick, der verbunden war mit der Erinnerung an die dumpfe Geschäftigkeit von zweihundert Barackenbewohnern, die sich für den Tag fertig machten, an ihre Ausdünstungen, den vom Hunger verdorbenen Atem, den Gestank ihrer Fußlappen, ihres Nachtschweißes, ihrer Pisse … Schwer zu glauben, dass er das alles erlebt, dass er es überlebt hatte. Erneut kam ihm der Krichatzki in den Sinn, den er in der Brusttasche zum Arbeitseinsatz geschleppt hatte — sein letzter Privatbesitz, abgesehen von seinem Löffel. Der letzte Beweis dafür, dass irgendwo da draußen noch eine andere Welt existierte. Deshalb hatte er den Krichatzki (Zigarettenpapier!) nicht gegen Brot eingetauscht, hatte ihn mitgeschleppt in diesen Winter hinein, den schlimmsten, 1942/43, als es nichts mehr zu tauschen gab, schon gar kein Brot, das jeder selbst auffraß, 600 Gramm bei Normerfüllung, das bedeutet, mit allen Schlechtwetter-Koeffizienten, acht Festmeter Holz zu zweit, vierzehn Bäume täglich, alles mit der Hand, Ein-Meter-Bohlen, entastet, bei 90 Prozent gibt es noch 500 Gramm schlechtes, glitschiges Brot, darunter verhungerst du: Bei 400 Gramm schaffst du die 400-Gramm-Norm nicht mehr, dann geht es abwärts, irgendwann kriegst du den Blick, diesen Blick, den sie kriegen, bevor sie am Morgen steif auf der Pritsche liegen, dann tragen sie dich hinaus, so wie du die anderen hinausgetragen hast, an der Wache vorbei, wo sie kurz noch anhalten, und der Wachhabende drückt seine Machorka aus und nimmt den Hammer, Vorschrift ist Vorschrift, und schlägt dir, dem Toten, den Schädel ein …
Kurt hatte sich an einen Baum gelehnt — es war eine Kiefer, er erkannte es am Geruch. Er hatte die Augen geschlossen, seine Stirn berührte die Rinde. Noch immer blitzten vereinzelte Bilder auf, aber allmählich wurde es stiller in seinem Kopf. Stattdessen war da ein anderes Geräusch. Eine Art Ächzen. Ein Tier, ein großes Tier? Kurt kannte die Verhaltensregeln: sich tot stellen. Auf den Bauch legen und sich tot stellen, und wenn er dich umdreht (denn genau das taten Bären), dann Luft anhalten. Aufhören zu atmen.
Kurt hörte auf zu atmen, neigte den Kopf nach rechts und sah an der Kiefer vorbei auf eine kleine Lichtung, auf der, in einer Entfernung von zehn, fünfzehn Metern, ein blauer Trabbi stand, der mit schnellen, regelmäßigen Bewegungen auf und ab federte.
Trachajutsja, dachte Kurt: Die ficken.
Er holte seine Brille heraus und prüfte das Kennzeichen — nicht Irina. Nicht der Indianer. Er atmete auf. Der eigene Atem kitzelte ihn im Hals, und sein Ausatmen ging in ein lautloses, glucksendes Lachen über. Dann schlug er einen respektvollen Bogen um das wippende Fahrzeug und machte sich davon.
Es tröpfelte jetzt ein bisschen, aber der Regen kam nicht in Gang. Offenbar hatte sich ein Gewitter über der Havel verfangen. Kurt hatte die Richtung wieder, schritt jetzt gleichmäßig aus. Nein, er war hier nicht in der Taiga. Weder gab es hier Arbeitslager noch Braunbären, stattdessen standen blaue Trabbis im Wald, in denen die Leute fickten. Wenn das kein Fortschritt ist, dachte Kurt. Und war es nicht auch ein Fortschritt, wenn man die Leute — anstatt sie zu erschießen — aus der Partei ausschloss? Was erwartete er? Hatte er vergessen, wie mühsam die Geschichte sich vorwärtsbewegte? Auch die Französische Revolution hatte unendliche Wirrnis nach sich gezogen. Köpfe waren gerollt. Ein selbstgekrönter Revolutionsgeneral hatte ganz Europa mit Krieg überzogen. Jahrzehnte hatte diese — bürgerliche — Revolution gebraucht, um bei ihren Zielen anzukommen. Warum sollte es der sozialistischen Revolution anders ergehen? Man hatte Chruschtschow abgelöst. Irgendwann kam ein neuer Chruschtschow. Irgendwann kam ein Sozialismus, der diesen Namen verdiente — wenn auch vielleicht nicht mehr in seiner Lebenszeit, in jenem winzigen Abschnitt der Weltgeschichte, dessen Zeuge er zufällig war und den er, verdammt nochmal, zu nutzen gedachte — jedenfalls das, was davon übrig geblieben war nach zehn Jahren Lager und fünf Jahren Verbannung.
Es knatterte hinter ihm: Der Trabbi kam. Kurt trat beiseite und hob, was sonst nicht seine Art war, die Hand zum Gruß, blind gegen das Scheinwerferlicht, und empfand, obwohl er niemanden sah, eine glückselige Verschworenheit mit den Fremden im Auto, die — sehr wahrscheinlich — soeben irgendjemanden betrogen hatten.
Jetzt regnete es tatsächlich. Es roch nach Regen und Wald und ein bisschen nach Zweitakter-Abgasen. Kurt atmete tief, atmete alles ein, schnüffelte dem Trabbi hinterher, und der süßliche Abgasgeruch kam ihm auf einmal vor wie der Geruch der Sünde. Es war wunderbar, am Leben zu sein. Wunderbar — und verwunderlich auch. Und wie so oft in diesen Momenten, wenn er es kaum fassen konnte, dass er tatsächlich lebte, dachte er zugleich daran, dass Werner nicht mehr lebte: sein großer kleiner Bruder, der Stärkere, immer, der Schönere von beiden … Aber während der Gedanke an Werner normalerweise mit einem Anflug von schlechtem Gewissen verbunden war, empfand Kurt dieses Mal etwas anderes, Neues, das nicht wie das schlechte Gewissen im Bauch saß, sondern weiter oben, in der Brust, in der Kehle. Es war etwas, das die Kehle verengte und die Brust weitete und das Kurt nach einiger Zeit als Trauer identifizierte. Es war weniger schlimm, als er gedacht hatte. Und es war auch, seltsamerweise, nicht zu trennen von dem Glück, das er empfand, sondern vermischte sich damit zu einer großen, die Welt einschließenden Empfindung. Was ihn schmerzte, war nicht so sehr der Tod, sondern das ungelebte Leben Werners. Zugleich aber empfand er es plötzlich als Trost, dass er an Werner denken, sich an ihn erinnern konnte, dass sein Bruder, solange er, Kurt, lebte, nicht völlig verschwunden war, dass er — im Gegensatz zu seiner Mutter, die sich die Ohren zuhielt, wenn man von Werner sprach! — seinen Bruder in sich bewahrte, ihn vor der endgültigen Vernichtung bewahrte, und er verstieg sich, während ihm das Regenwasser übers Gesicht lief, zu der (zugegeben unwissenschaftlichen) Vorstellung, er könne für seinen Bruder mitleben, mitatmen, mitriechen, ja sogar — und jetzt fiel ihm seine wundersame Verdopplung ein — , sogar mitficken, dachte Kurt, und Veras Dinger erschienen in einem ganz neuen Licht: Mitficken, dachte Kurt, im Namen seines ermordeten Bruders.
Manchmal vergaß er, was zu tun war.
Es kam ihm so vor, als sei er über Nacht erstarrt.
Er rollte probehalber mit den Augen.
Seine linke Hand zuckte.
Er drehte den Kopf zuerst nach rechts, dann nach links.
Er sah, dass ihn aus dem Halbdunkel etwas angrinste.
Wilhelm nahm sein Gebiss aus dem Wasserglas und stand auf.
Er ging ins Bad. Er ließ Badewasser ein. Er brachte die große Höhensonne Typ «Sonja» in Gang und setzte sich, ausgerüstet mit einer dunklen Schutzbrille, in die Wanne.
Sein Kopf war leer. In seinem Kopf war nur das Grummeln des Badewassers. Im Grummeln des Badewassers war eine Melodie. Es war eine Melodie, die er kannte. Eine Art Kampflied, das ihn aber gleichzeitig traurig stimmte. Kämpferischtraurig. Leider fielen ihm die Worte nicht ein.
Schlamassel, das war das Erste, was Wilhelm an diesem Tag dachte.
Читать дальше