— Das Mittagessen steht auf Herd, sagte Irina. Und um vier bin ich zu Hause.
Nachdem Irina gefahren war, ging Kurt, noch immer in Bademantel und Schlafanzug, in sein Zimmer. Er drehte die Heizung auf, setzte sich auf den Heizkörper. Betrachtete, während er die zunehmende Hitze am Hintern spürte (ja, auch die Gasheizung war eine gute Idee gewesen!), die schwedische Importbücherwand, die Irina ihm vermittels irgendwelcher undurchsichtigen (hoffentlich nicht kriminellen!) Transaktionen beschafft hatte. Fünf Jahre lang hatte er seine Bücher in Kisten von Zimmer zu Zimmer geschleppt. Jetzt standen sie da in vollkommener Ordnung, ein Anblick, der Kurt immer aufs Neue befriedigte — nur warum er den Krichatzki, das kleine, zerfledderte Lateinlehrbuch, das er zehn Jahre lang mit durchs Lager geschleppt hatte, bei seinen eigenen Werken eingeordnet hatte, war Kurt plötzlich unklar. Er nahm das Buch heraus, wusste aber nicht recht, wohin damit (kein Nachschlagewerk, keiner Periode zuzuordnen) — und stellte es wieder zurück.
Dann holte er die Vorträge und Zeitschriften seiner Moskauer Kollegen heraus, die Zettel mit Telefonnummern und Adressen, der übliche Kram, den man von so einer Reise mitbrachte, das meiste war Mist, selbstverständlich, die meisten Telefonnummern würde er, nachdem er sie sorgfältig in sein Telefonbuch übertragen hatte, nie anrufen; die meisten Vortragsmanuskripte würden eine Weile in seinem Zimmer herumliegen, bis er sie, nach Wahrung einer Anstandsfrist, wegwarf. Kurt legte die Kopien, die er sich im Archiv hatte machen lassen, beiseite — und haute den Rest in den Papierkorb. Holte die Zettel mit Adressen und Telefonnummern wieder heraus, begann sie zu sortieren. Hielt auf einmal eine namenlose Nummer in der Hand, brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, zu wem die Nummer gehörte … und war einen Augenblick versucht, sie aufzuheben, als Rache für Gojkovic — aber dann musste er an den gestrigen Abend denken, an den goldenen Spiegel, an seine wundersame Verdopplung und an das Versprechen, das Irina ihm ins Ohr gehaucht und das sich sofort mit einem Bild verbunden hatte, das jetzt wieder vor seinen Augen aufstieg — gerade in dem Moment, als es draußen klingelte.
Rasch steckte er den Zettel in die Bademanteltasche und marschierte zur Haustür, noch immer das Bild vor Augen, es war ein Bild aus dem vergangenen Sommer, Urlaub am Schwarzen Meer, wo sie zusammen mit Vera gewesen waren, zufällig übrigens, denn sie hatten Vera überraschend im Transitraum getroffen, Kurt hatte sie nur flüchtig gekannt, eine ehemalige Kollegin Irinas aus deren Zeit im Archiv der Neuendorfer Akademie, die, wie sich herausgestellt hatte, zu ihrer Reisegruppe gehörte und die, da sie, wie sich ebenfalls herausstellte, neuerdings geschieden war, allein nach Nessebar flog, und von dort — vom Strand in Nessebar — stammte auch das Bild, das Kurt, wie flüchtig auch immer, bei den zehn oder zwölf oder vierzehn Schritten vom Schreibtisch bis zur Haustür durch den Kopf ging. Alle drei waren nämlich das erste Mal an einem südlichen Meer gewesen, und alle drei waren beim Betreten des Strandes überrascht gewesen, wie heiß der Sand in Nessebar war, Kurt hatte unwillkürlich begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen, und dasselbe taten die Frauen, plötzlich hüpften sie alle drei, ein alberner kleiner Tanz, den sie aufführten, und was bei diesem Tanz mittanzte, waren Veras auf wundersame Weise oder vielleicht einfach durch einen sich lösenden Bademantelgürtel zum Vorschein kommende Dinger , dachte Kurt, denn er wusste kein anderes Wort dafür, es waren wirklich Dinger , schwere weiße, von winzigen blauen Äderchen durchzogene Dinger , die noch vor Kurts Nase tanzten, als er die Haustür öffnete und in ein rundes, schief lächelndes Gesicht blickte, das er einige Sekundenbruchteile später als das Gesicht seines Parteisekretärs Günther Habesatt identifizierte.
— Nanu, sagte Kurt.
— Entschuldige, sagte Günther und trat von einem Bein auf das andere, als müsste er dringend pinkeln.
Aber Günther musste nicht pinkeln. Eine Weile stand er, noch immer von einem Bein aufs andere tretend, in der Mitte von Kurts Zimmer herum, äußerte sich bewundernd über das Haus und das Zimmer und die schwedische Importbücherwand, lehnte Kaffee ab, bat aber um ein Glas Wasser und ließ sich dann in einem der schon etwas abgeschabten Schalensessel nieder, die aus Charlottes Haus stammten und in dem sich Günthers beträchtliche Körpermasse verteilte wie in einer Badewanne. Insgeheim verachtete Kurt dicke Menschen. Günther war im Großen und Ganzen ein netter Kerl, hilfsbereit, kein Intrigant, aber doch ein eher schwacher, ein anfälliger Mensch, das jedenfalls glaubte Kurt aus der Tatsache schließen zu können, dass Günther sich, wenngleich widerstrebend (oder jedenfalls den Anschein des Widerstrebens erweckend), hatte verpflichten lassen, Parteisekretär zu werden. Auch Kurt hatte man angesprochen, aber er hatte — selbstverständlich — abgelehnt.
Nachdem er das Glas Wasser — scheinbar ganz ohne zu schlucken — in seinem großen Körper hatte verschwinden lassen, schaute Günther sich noch einmal im Raum um, als könnte er jemand übersehen haben, und begann mit gesenkter Stimme und unter Kopfwackeln und Augenverdrehen den Grund seines Erscheinens zu erläutern. Die Angelegenheit war ebenso einfach wie dumm. Paul Rohde, ein immer schon etwas übermütiger und nicht immer disziplinierter Mitarbeiter aus Kurts Arbeitsgruppe, hatte in der ZfG das Buch eines westdeutschen Kollegen besprochen, in dem die sogenannte Einheitsfrontpolitik der KPD Ende der zwanziger Jahre kritisch beleuchtet wurde (welche, wie jedem klar war, in Wirklichkeit natürlich eine Spalterpolitik gewesen war, die die Sozialdemokratie verunglimpft und das Erstarken des Faschismus auf schlimmste Weise befördert hatte!), und dann hatte Rohde dem westdeutschen Kollegen persönlich seine Rezension geschickt, versehen mit der Bemerkung, er möge entschuldigen, dass sie so negativ sei, die gesamte Arbeitsgruppe finde das Buch klug und interessant, aber in der DDR sei es leider noch längst nicht so weit, dass das Thema Einheitsfrontpolitik offen diskutiert werden könne …
Etwas Derartiges an einen westdeutschen Kollegen zu schreiben war natürlich unglaublich dumm, aber … irgendetwas kapierte Kurt nicht. Mit wachsendem Unbehagen hörte er sich an, wie Günther vom Fortgang der Sache berichtete, welcher, kurz gesagt, darin bestand, dass die Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED eine harte Bestrafung des Genossen Rohde forderte, welche morgen, am Montag, auf der Parteiversammlung beschlossen werden sollte, und bei dieser Gelegenheit — du weißt ja, wie’s ist — wurden von Rohdes Kollegen, besonders aber von den Kollegen der Arbeitsgruppe, und ganz besonders von Kurt, dem Leiter der Arbeitsgruppe, «spontane» Stellungnahmen erwartet, und darüber, erklärte Günther, habe er Kurt vorab informieren wollen, ganz im Vertrauen, versteht sich …
— Und woher, entschuldige, kennst du eigentlich den Inhalt des Briefes?
Günther schien ihn nicht zu verstehen.
— Na, vom ZK, sagte er.
— Und das ZK?
Günther verdrehte die Augen, hob seine dicken Arme und sagte dann:
— Tja.
Nachdem Günther gegangen war, zog Kurt seine Arbeitsklamotten an und ging in den Garten. Das Wetter war gut, und gutes Wetter musste man irgendwie nutzen. Er holte die Harke heraus, aber es war kaum Laub da, also überlegte er, ob er irgendetwas beschneiden könnte. Aber er war sich nicht sicher, die Knospen kamen bereits, womöglich war es zu spät zum Beschneiden. Und obwohl er den Gedanken ans Beschneiden schon wieder aufgegeben hatte, suchte er noch eine Weile die Gartenschere, ohne sie allerdings zu finden. Stattdessen fand er ein paar Tulpenzwiebeln und beschloss, sie einzupflanzen. Eine Zeitlang ging er im Garten herum und schaute nach einem geeigneten Platz, konnte sich aber für keinen entscheiden. Sein Magen meldete sich: ein Grummeln, das Kurt für Hunger zu halten beschloss. Er brachte die Tulpenzwiebeln wieder in den Schuppen.
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