Drei Kilometer weiter biegt Alexander links ab, dann nochmal links und rechts, dann ist er am Ziel: die Tapachula . Eine schmale, baumlose Straße. Anstelle von Bäumen: Straßenlaternen und Masten, zwischen denen sich ein spinnenartiges Netz von Kabeln ausbreitet. Nummer 56 A: ein kaum vier Meter breites, zweistöckiges Haus, er erkennt die Zinnen der Dachgartenbrüstung, von dort oben hat seine Großmutter heruntergeschaut, aber auf dem Foto, obwohl es schwarzweiß war, hat das alles irgendwie grün ausgesehen. Irgendwie tropisch und großzügig.
Vorsichtig schaut er durch das vergitterte Fenster im Erdgeschoss. Kisten stehen dort, anscheinend ein Lager. Er klingelt, niemand macht auf. Er wechselt die Straßenseite, betrachtet das Haus. Versucht, etwas zu empfinden. Wie empfindet man die einstmalige Anwesenheit einer Großmutter?
Das Einzige, was er empfindet: dass seine Fußsohlen schmerzen. Sein Rücken. Seine während des Krankenhausaufenthalts merklich erschlaffte Beinmuskulatur.
An der Ecke winkt er ein grün-weißes Käfer-Taxi heran, obwohl er im Backpacker gelesen hat, dass man keine Taxis auf der Straße heranwinken soll. Der Fahrer ist freundlich und trägt ein sauberes weißes Hemd. Ein Taxameter ist auch da.
Der Fahrer biegt rechts in die Insurgentes ein, Richtung Norden, vollkommen korrekt. Der Verkehr ist zähflüssig, das Taxameter rasselt. Dann biegt der Fahrer auf einmal links ab, obwohl das Zentrum eher rechts liegt. Vermutlich, so beruhigt sich Alexander, will er den Verkehr auf der Insurgentes umfahren. Aber anstatt die nächste größere Parallelstraße zu nehmen, fährt der Fahrer weiter einen unübersichtlichen Zickzackkurs, der vom Ziel wegzuführen scheint.
— Adonde vamos, fragt Alexander.
Der Fahrer antwortet irgendetwas, gestikuliert. Lächelt in den Rückspiegel.
— Stopp, sagt Alexander.
— No problem, sagt der Fahrer in einer Art Englisch. No problem!
Hält aber nicht.
Hält drei Minuten später in einer verlassenen Gasse: Mauern, Wellblechdächer, Verfall. Der Fahrer hupt kurz, bedeutet Alexander wort- und gestenreich, im Auto sitzen zu bleiben, und verschwindet.
Alexander wartet ein paar Sekunden ab, steigt aus. Aber kaum dass er sich, aus der niedrigen Autotür windend, aufrichtet, steht er zwei Gestalten gegenüber. Auf den ersten Blick, mit ihren Kapuzen, ihren weiten Jeans, sehen sie aus wie die beiden Typen aus dem Burgerrestaurant, aber dann sieht er, dass sie jünger sind. Kaum älter als sechzehn, schlaksig, dünn. Einer, der Größere von beiden, trägt einen flaumigen Oberlippenbart und hält in der Hand ein schönes, verziertes Messer. Der andere, kleiner, mit intelligenten, flink umherhuschenden Augen, zeigt auf das Taxi und fragt Alexander etwas.
Alexander versteht nicht, versteht aber doch: Ob er nicht das Taxi bezahlen wolle, so etwa. Blöder Trick. Laut sagt er, auf Deutsch:
— Ich verstehe nichts.
— Dinero, Peso, Dollar, sagt der Kleine.
Alexander holt die Brieftasche heraus, entschlossen, dem Jungen nicht mehr zu geben, als das Taxameter anzeigt. Aber ehe er sichs versieht, hat der Kleine ihm die Brieftasche entrissen und prüft in sicherem Abstand den Inhalt. Unwillkürlich macht Alexander einen Schritt auf den Kleinen zu. Der Oberlippenbart hebt das Messer, fuchtelt hektisch damit herum. Der Kleine nimmt das Geld heraus, es sind dreihundert Dollar und ein paar hundert Pesos, und wirft Alexander die Brieftasche zu. Sekunden später sind die beiden verschwunden.
Er überlegt nicht lange, geht los. Er will weg hier. Er hört jemanden rufen. Hört, wie der alte VW anspringt, sich nähert. Eine Weile fährt der Taxifahrer neben ihm her, redet auf ihn ein. Alexander nimmt keine Notiz von ihm. Schaut geradeaus, geht einfach. Wie durch einen Tunnel.
Es dauerte eine Weile, bis ihm das Wort einfällt: Raubüberfall. Er ist ausgeraubt worden. Von zwei Sechzehnjährigen. Von zwei kleinen Jungs. Er fühlt sich gedemütigt. Und mehr noch als durch das Messer fühlt er sich gedemütigt durch die flinken, intelligenten Augen des Kleinen, die ihm gesagt haben, was er ist: ein blöder, schwerfälliger Weißer, den man ausnehmen muss. Und? Ist er das etwa nicht? Ja, das ist er. Er spürt es. Er spürt den Betrug.
Er stiefelt weiter in die Richtung, in der er, wie er glaubt, irgendwann auf die Insurgentes stoßen müsste. Es dämmert. Die Gegend wird allmählich wieder belebter. In den Häusern gehen die Lichter an. Menschen stehen auf der Straße, starren ihn an, den blöden, schwerfälligen Weißen: Betrug. Er sieht die Geschäfte, die Kneipen: Betrug. Er sieht die Werbung über den Dächern, er sieht die Taxis, die in Scharen über die Insurgentes brausen, die fliegenden Händler, die ihm Schmuck oder Sonnenbrillen andrehen wollen: Betrug. Sogar beim Anblick der erbärmlichen Bäumchen auf dem Mittelstreifen, beim Anblick der hilflosen Stilkopien, beim Anblick des ramponierten Gehwegs oder beim Anblick der überall herunterhängenden Drähte, beim Anblick der abgefetzten Plakate, der gelbgetünchten Bordsteine, der Mobilfunkantennen, der Stromleitungen, beim Anblick der auf McDonald’s getrimmten Imbissbude oder beim Anblick des Mannes, der dort im strahlend weißen Hemd und mit dicken Ringen an seinen dicken Fingern vor die Tür des Etablissements mit blinkender Leuchtschrift tritt, weiß er: Es ist Betrug, und er wundert sich, dass er es nicht früher bemerkt hat. Er ist betrogen worden, sein Leben lang. Man hat ihn an der Nase herumgeführt (er kichert vor Freude über diese Erkenntnis). In Wirklichkeit ist alles Betrug, und die Wahrheit ist: Er ist ein blöder, schwerfälliger Weißer, den man ausnehmen muss — was denn sonst?
Was hat er sich vorgestellt, um Himmels willen? Hat er wirklich geglaubt, jemand habe auf ihn gewartet? Hat er wirklich geglaubt, Mexiko würde ihn mit offenen Armen aufnehmen wie einen alten Bekannten? Hat er wirklich gehofft, dieses Land würde ihn — ja, was eigentlich: heilen? … Jaja, so etwas Ähnliches … Ein hässliches Geräusch entfährt ihm. Er lacht, er röchelt. Er weiß es selbst nicht. Mechanisch setzt er einen Fuß vor den anderen. Die Wut treibt ihn vorwärts. Er hat Durst, aber er geht, setzt einen Schritt vor den anderen. Spürt die Trockenheit im Hals. Fühlt sich heiser vom Reden — sogar vom Nach-innen-Reden. Jetzt tun die Fußsohlen weh. Aber der Durst ist schlimmer. Das weiß er vom Marathon: Der Schmerz wird vergehen, aber der Durst wird schlimmer werden. Er sucht seine Hosentaschen nach ein paar übriggebliebenen Pesos ab: Für eine Flasche Wasser reicht es nicht. Es fehlen drei Pesos. Aber drei Pesos sind drei Pesos. Es lohnt sich nicht, zu fragen. Niemand wird ihm drei Pesos schenken: einem blöden, schwerfälligen Weißen. Nicht einmal, wenn er Krebs hat. Er setzt sich auf eine Bank. Ihm ist schwummrig im Kopf. Er erinnert sich an einen Marathonlauf in R., wo sie ihn akut dehydriert aus dem Rennen gefischt haben. Damals hat er nicht mehr gewusst, was er tat. Er rechnet nach: der Kaffee, die Cola — die einzigen Getränke an diesem Tag. Es ist heiß. Er ist bestimmt zwanzig Kilometer marschiert. Er verspürt die Versuchung, in irgendein Café zu gehen und aus der Wasserleitung zu trinken. Aber das darf er nicht, sagt der Backpacker . Er muss weiter, darf nicht sitzen bleiben, sich nicht hinlegen. Wenn er sich hinlegt, ist er tot. Ein blöder, schwerfälliger, toter Weißer. Er sieht sich selbst am Morgen tot auf der Bank liegen: Den Hut haben sie ihm geklaut, die Hose haben sie ihm geklaut … Gerade klaut ihm jemand seine tschechischen Wanderschuhe, die er schon seit Jahren, und zwar noch immer mit denselben Schnürsenkeln, trägt.
— Was machst du denn da?
Allmählich kapiert er, dass der Mann, der da vor ihm kniet und sich an seinem rechten Schuh zu schaffen macht, ein Schuhputzer ist.
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