Dass sämtliche Brunnen abgeschafft werden sollten, fand Alexander wenig erfreulich, aber er wollte Wilhelm nicht wieder enttäuschen. Deswegen sagte er:
— Die Sowjetunion ist das größte Land der Welt.
Wilhelm nickte zufrieden. Sah ihn erwartungsvoll an. Auch Omi sah ihn erwartungsvoll an. Und Alexander fügte hinzu:
— Aber Achim Schliepner ist dumm. Der sagt, dass Amerika das größte Land der Welt ist.
— Aha, sagte Wilhelm, interessant. Und zu Omi sagte er:
— Und gewählt haben die auch wieder nicht, die Schliepners. Aber die kriegen wir auch noch dran.
Kindergarten. Nun war er schon in der großen Gruppe. Achim Schliepner war fort. Nun war Alexander der Klügste. Beweis:
— Ich war schon in Moskau.
Nicht mal Frau Remschel war dort.
— Und wenn ich groß bin, dann fahr ich nach Mexiko.
Denn wenn er groß ist, herrscht überall Komponismus. Dann werden die Indianer nicht mehr ausgebeutet und unterdrückt. Niemand muss sich mehr opfern. Nur Klapperschlangen, die gibt es natürlich noch. Und Skorpione im Schuh. Aber da kennt er sich aus: Morgens die Schuhe ausschütteln — einfacher Trick. Den hat ihm Omi verraten.
Es ist Sonntag. Alexander geht mit seinen Eltern die Straße entlang. Es ist die Thälmannstraße. Die Bäume sind bunt. Es riecht nach Rauch. Die Leute harken das Laub zusammen und verbrennen es in kleinen Haufen. Man kann Kastanien in die Glut werfen, die knallen nach einer Weile.
Sie gehen mitten auf der Straße, Hand in Hand: links Mama, rechts Papa, und Alexander erklärt, wie er sich die Sache so vorstellt.
— Ich werde groß, dann werdet ihr wieder klein. Und dann werdet ihr wieder groß und ich wieder klein. Und so geht das weiter.
— Nein, sagt sein Vater, ganz so ist das nicht. Wir werden zwar mit der Zeit etwas kleiner, aber nicht jünger. Wir werden älter, und irgendwann sterben wir.
— Stirbt jeder?
— Ja, Sascha.
— Sterbe ich auch?
— Ja, auch du stirbst irgendwann, aber bis dahin ist es noch ganz, ganz, ganz weit — so unendlich weit, daran brauchst du noch nicht zu denken.
Verblüffende Erkenntnis.
Unendlich: Dort hinten, wo alles sich im Rauch verlor, wo die Bäume allmählich kleiner wurden, dort hinten musste es sein. Dorthin gingen sie, seine Eltern und er. Die kühle Luft streifte seine Wangen. Sie gingen und gingen, so beängstigend leicht, und doch fast ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Wenn er lächelte, dann aus Verlegenheit: weil seine Vorstellungen vom Groß- und Kleinwerden so dummes Zeug waren.
Der Flughafen sah aus wie ein Nachtasyl. Schlafsäcke, Schlangen an den Schaltern. Auf den Anzeigetafeln wimmelte es von gestrichenen Flügen. Die Leute schienen alle dieselbe Zeitung zu lesen. Titelbild: ein Flugzeug, das in einen Wolkenkratzer fliegt. Oder war es ein Marschflugkörper? Eine Rakete?
Auch der Flug nach Mexiko hatte Verspätung.
Alexander kaufte einen Reiseführer (den berühmten Backpacker , sanfter Tourismus), ein deutsch-spanisches Wörterbuch, ein aufblasbares Nackenkissen und — zur Einstimmung — eine spanische Zeitung. Ein Wort, das er auch ohne Wörterbuch verstand: terrorista .
Dann, endlich, doch der Check-in. Auf dem Weg zur Startposition das Sicherheitsballett der Stewardessen. Sie lächelten unbeirrt, wenn man es lächeln nennen wollte. Er versuchte, sich ihre Gesichter vorzustellen beim Absturz.
Gedanke im Moment des Abhebens: dass es immer noch ziemlich viele Möglichkeiten gab, ums Leben zu kommen. Beruhigend, komischerweise.
Er richtete sich auf seinem Sitz ein, so gut es ging — zwischen einem übergewichtigen Goldkettchenmann und einer bleichen Mutter, die vergeblich versuchte, ihr Cola saufendes Kind zu bändigen. Er las nichts, versuchte erst gar nicht zu schlafen. Verfolgte auf dem kleinen Bildschirm vor seiner Nase lange den Kurs des Flugzeugs, die zunehmende Höhe, die abnehmende Temperatur.
Er nahm alles an, was man anbot: Kaffee, Kopfhörer, Schlafmaske. Aß alles auf, was zum Mittag serviert wurde, selbst das rätselhafte Dessert aus der Plastikschachtel.
Nach zwei oder drei Stunden begann der Film. Irgendein ganz gewöhnliches Action-Movie. Menschen schlugen einander, traten aufeinander ein, begleitet von Geräuschen, die er noch aus den Kopfhörern der Nachbarn hörte. Nichts Besonderes eigentlich, außer dass er es plötzlich nicht ertragen konnte. Warum zeigte man so was? Wie Menschen einander wehtaten?
Er setzte die Schlafmaske auf, stöpselte seine Kopfhörer ein, schaltete die Programme durch.
Händel. Irgendeine dieser berühmten Arien: verhalten und von gefährlicher Melancholie. Vorsichtig hörte er hinein, jeden Augenblick bereit, die Musik abzuschalten, falls sie ihm zu nahe ging.
Was aber nicht der Fall war. Er lehnte sich zurück, lauschte verwundert dem überirdischen Sound der Arie — nein, eigentlich nicht überirdisch, im Gegenteil. Ganz anders als Bach: irdisch, diesseitig. So diesseitig, dass es beinahe wehtat. Abschiedsschmerz, wusste er plötzlich. Der Blick auf die Welt im Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Wie alt mochte Händel gewesen sein, als er dieses Wunder komponierte? Besser, man wusste es nicht.
Und wie viel Zeit sich dieser Kerl ließ. Und wie einfach das alles war, wie klar.
Er musste an seine letzte Inszenierung in K. denken. Gewiss, wenn man wollte, konnte man sich damit beruhigen, dass die Kritiken dann doch nicht so verheerend gewesen waren, wie er es befürchtet hatte. Er erinnerte sich, wie er zur Premiere auf den Stufen gesessen hatte. Wie er, innerlich ersterbend, mit angesehen hatte, wie die Schauspieler auf der Bühne zappelten und schrien, ihre Kunststückchen aufführten … Das umständliche, bunte Bühnenbild. Das aufwendige Lichtkonzept (für das extra noch ein teurer Tageslichtscheinwerfer zugekauft worden war) … Alles zu viel. Zu angestrengt. Zu kompliziert.
War es das? Dieses Angestrengte und Komplizierte. War das sein Krebs?
Non-Hodgkin-Lymphom … Und dann hatte dieser Kerl ihm die Krankheit erklärt: widerwillig sich auf dem Drehsessel hin und her wiegend, ein Plastiklineal in der Hand — hatte er wirklich ein Lineal in der Hand gehabt? Hatte er wirklich lustige kleine Kullern in die Luft gemalt, als er ihm etwas von den T-Zellen erzählte, die ihn langsam umbringen würden?
Das Absurde war, dass es sich um Abwehrzellen handelte. Um Zellen seines Immunsystems, eigentlich zur Abwehr fremdartigen Gewebes bestimmt, die sich aber, soweit Alexander verstanden hatte, nun selbst in feindliche Riesenzellen verwandelten.
Noch in der Nacht zuvor, in der Nacht vor der Diagnose, nachdem er stundenlang wach gelegen hatte, entnervt vom Rasseln des Sauerstoffapparates des alten Mannes, das unerbittlich durch die Ohrstöpsel drang, irgendwann gegen drei Uhr, nachdem er sich alle Fragen gestellt, alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, nachdem er schließlich aufgestanden und in den Flur geschlichen war und vergeblich versucht hatte, das Problem auf der anatomischen Karte zu lokalisieren — nach alldem hatte er schließlich gedacht: Egal, was es war, egal, wo es war, man würde es herausschneiden, und er würde kämpfen, so hatte er gedacht, um dieses Leben, und bei dem Wort kämpfen hatte er sich unwillkürlich im Humboldthain seine Runden drehen sehen, um sein Leben laufen, hatte er gedacht, die Krankheit aus sich herauslaufen, laufen, bis nichts mehr von ihm übrig blieb als der Kern, als die Essenz, bis zwischen Haut und Sehnen einfach kein Platz mehr war für irgendwelches feindliches Gewebe …
Es gab nichts herauszuschneiden, nichts zu lokalisieren. Es kam aus ihm selbst, aus seinem Immunsystem. Nein, es war sein Immunsystem. Es war er selbst. Er selbst war die Krankheit.
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