Zum Abendbrot gab es Musik: aus dem Schallplattenspieler. Das war ein dunkler Schrank mit einer halbrunden Klappe, die man nach oben öffnete.
Wilhelm war gegen Musik.
— Du immer mit deinem Zeug, sagte er.
Aber er war der Einzige, der den Schallplattenspieler bedienen konnte. Deswegen bettelte die Omi:
— Wilhelmchen, leg uns doch eine Schallplatte auf, Alexander hört so gern Jorge Negrete.
Schließlich nahm Wilhelm eine Platte aus dem Schrank, ließ sie aus der Hülle gleiten, nahm einen Pinsel und fuhr dann, während er die Platte so in der Hand hielt, dass er nur den Rand und die Mitte berührte, in leicht übertriebenen Kreisbewegungen über die Rillen, wobei er die Platte wieder und wieder gegen das Licht hielt. Dann suchte er eine Weile den Schniepel, der durch das Loch in der Mitte der Platte musste und den man ja, während man über dem Plattenteller hantierte, nicht sah — schwieriger Vorgang. Wenn das gelungen war, stellte Wilhelm die Geschwindigkeit ein, bückte sich, den Hals verdrehend, hinab, sodass Alexander ihm auf seinen glatzigen Kopf gucken konnte, und senkte vorsichtig die Nadel, bis das geheimnisvolle Knistern vernehmbar wurde … Dann kam die Musik.
Goldene Gräte. Alexander stellte sich eine vergoldete Fischgräte vor. Unklar blieb, was das mit der Musik zu tun hatte. Da es bei seinen Eltern keinen Plattenspieler gab, war Goldene Gräte im Grunde die einzige Musik, die er kannte. Die aber dafür gut:
México lindo y querido
si muero lejos de ti
que digan que estoy dormido
y que me traigan aquí
Obwohl er kein Wort verstand: Den Refrain hätte er mitsingen können.
— Weißt du denn, warum die Indianer Indianer heißen, fragte Wilhelm und klatschte sich eine Scheibe Brot aufs Brett.
Alexander wusste, warum die Indianer Indianer hießen, das hatte Wilhelm bereits zweimal erklärt. Gerade deswegen zögerte er.
— Aha, sagte Wilhelm, weiß er nicht. Keine Ahnung, die jungen Menschen!
Er klatschte sich eine Portion Butter aufs Brot und verschmierte sie mit einer einzigen Bewegung.
— Kolumbus, sagte Wilhelm, hat die Indianer Indianer genannt, weil er dachte, er ist in Indien. Comprende? Und wir nennen sie immer noch so. Ist das nicht ein Blödsinn?
Er schmierte sich eine dicke Schicht Leberwurst auf das Brot.
— Die Indianer, sagte Wilhelm, sind die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents. Ihnen gehört Amerika. Aber stattdessen …
Er legte sich noch eine saure Gurke aufs Brot, genauer, er warf sie aufs Brot, aber die Gurke fiel wieder herunter und rollte auf die Tischdecke.
— Stattdessen, sagte er, sind sie heute die Ärmsten der Armen. Enteignet, ausgebeutet, unterdrückt.
Dann zerteilte er die Gurke, drückte die Gurkenhälften tief in die Leberwurst ein und begann geräuschvoll zu kauen.
— Das, sagte Wilhelm, ist Kapitalismus.
Nach dem Abendbrot gingen Omi und Alexander in den Wintergarten. Im Wintergarten war es warm und feucht. Es roch süßlich-salzig, fast wie im Zoo. Der Zimmerspringbrunnen brummte leise. Zwischen Kakteen und Gummibäumen standen und lagen Dinge herum, die Omi aus Mexiko mitgebracht hatte: Korallen, Muscheln, Dinge aus echtem Silber, die Haut einer Klapperschlange, die Wilhelm eigenhändig mit der Machete erschlagen hatte; an der Wand hing die Säge eines leibhaftigen Sägefischs, fast zwei Meter lang und unwirklich wie das Horn eines Einhorns; das Beste aber war das ausgestopfte Haifischbaby, dessen raue Haut Alexander zum Schaudern brachte.
Sie setzten sich aufs Bett (Omis Bett stand im Wintergarten, weil sie nur hier ruhig schlafen konnte), und Omi begann zu erzählen. Sie erzählte von ihren Reisen; von tagelangen Reittouren; von Fahrten im Kanu; von Piranhas, die ganze Kühe auffraßen; von Skorpionen im Schuh; von Regentropfen, die so groß waren wie Kokosnüsse; und vom Urwald, der so dicht war, dass man sich mit einer Machete einen Weg hineinschlagen musste, der, wenn man wieder zurückkam, schon wieder zugewachsen war.
Heute erzählte Omi von den Azteken. Das letzte Mal hatte sie erzählt, wie die Azteken durch die Wüste gewandert waren. Heute fanden sie die verlassene Stadt, und weil niemand dort wohnte, glaubten die Azteken, hier seien die Götter zu Hause, und nannten die Stadt: Teotihuacán — der Ort, wo man Gott wird .
— Omi, aber in Wirklichkeit gibt’s keinen Gott.
— In Wirklichkeit gibt’s keinen Gott, sagte Omi und erzählte, wie die Götter die fünfte Welt gründeten.
— Denn die Welt, sagte Omi, war schon vier Mal untergegangen, und es war dunkel und kalt, und keine Sonne war mehr am Himmel, und einzig auf der großen Pyramide von Teotihuacán brannte noch eine Flamme, und die Götter versammelten sich, um zu beraten, und sie kamen zu dem Schluss: Nur wenn einer von ihnen sich opferte, würde es eine neue Sonne geben.
— Omi, was heißt denn opfern ?
— Das heißt, einer musste sich in das Feuer werfen, um als neue Sonne am Himmel aufzuerstehen.
— Warum?
— Einer musste sich opfern, damit das Leben der anderen weitergeht.
Verblüffende Erkenntnis.
Mama brachte ihn ins Bett.
— Legst du dich noch zu mir?
— Heute nicht, sagte Mama, ich hab mir gerade die Haare gemacht.
Ihre Kleider raschelten, als sie ging.
Heute fühlte er sich besonders unwohl. In der Dunkelheit spukten Bilder umher. Er dachte an den Gott, der sich ins Feuer werfen musste. Kipitalismus, das Wort tauchte auf. Es klang nach Hitze: «kipit» — russisch «es kocht». In einer brodelnden Suppe schwammen Piranhas herum. Nicht den Finger reinstecken, sagte sein Vater. Im Wüstensand tanzten barfuß Azteken, ihre Gesichter waren von Schmerz verzerrt. Wilhelm, Wilhelm, schrie Omi. Wilhelm kam und löschte alles mit Gurkenwasser. Mama, im schicken Kleid, verteilte Schuhe an die Azteken. Es waren aus der Mode gekommene Damenschuhe. Die Azteken betrachteten sie sehr verwundert, zogen sie trotzdem an. Dann wanderten sie weiter durch die von Gurkenwasser durchtränkte Wüste. Ihre Absätze versanken im gelben Schlamm.
Alexander erwachte und kotzte: mit Zitronencremegeschmack. Danach hatte er drei Tage Fieber.
Im April hatte er Geburtstag. Er bekam einen Roller (mit Luftbereifung), einen Schwimmring und einen Raupenschlepper, elektrisch.
Es kamen: Peter Hofmann, Matze Schöneberg, Katrin Mählich und die stille Renate. Peter Hofmann aß drei Stücken Torte. Es wurde Topfschlagen gespielt.
Nun, da er fünf war, stellte sich die Frage erneut:
— Mama, wann fahren wir denn zu Baba Nadja?
— Anfang September.
— Wann ist denn September?
— Jetzt wird es erst mal Mai, dann Juni, Juli, August, dann September.
Alexander war wütend.
— Du hast gesagt, wenn man größer wird, vergeht die Zeit schneller.
— Wenn du groß bist, Saschenka. Richtig groß.
— Wann bin ich denn richtig groß?
— Richtig groß bist du mit achtzehn.
— Wie groß bin ich dann? So groß wie Papa?
— Bestimmt größer.
— Warum?
— Das ist eben so. Kinder werden meistens größer als ihre Eltern. Und die Eltern werden im Alter ja auch wieder ein bisschen kleiner.
Auf Deutsch sagte sie:
— Ein Pfund Schabefleisch, bitte.
Der Sommer begann.
Zuerst musste man noch um Kurze-Hosen-Erlaubnis feilschen. Aber schon bald, nach wenigen Tagen, legte der Sommer zu, verbreitete sich unmerklich, besetzte die letzten Winkel von Neuendorf, trieb die Kühle aus der feuchten Erde; das Gras war jetzt warm, die Luft schwirrte vor lauter Insekten, und niemand erinnerte sich mehr an die Gänsehaut am ersten Tag, als man kurze Hosen anhatte; niemand konnte sich vorstellen, dass der Sommer jemals zu Ende ging.
Rollschuh laufen. Stahlrollen waren modern. Es ratterte mächtig. Wilhelm kam raus:
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