— Furchtbar, sagte Irina, wenn man von lauter alten Leuten umgeben ist.
— Soll ich ausziehen, fragte Kurt.
Besonders komisch fand Irina das nicht, aber als sie zu Kurt hinübersah, als sie ihn da sitzen sah mit seinem vom Leben zerfurchten Gesicht, seinen immer mehr ausufernden Augenbrauen (vor der Geburtstagsfeier unbedingt nachschneiden!) und seinen blauen Augen, von denen eines seit der Kindheit blind war und sich allmählich abgewöhnt hatte, die Bewegungen des anderen nachzuvollziehen (ein Makel, den Irina nach vierzig Ehejahren kaum noch bemerkte, wenngleich sie ihn gern zur Erklärung von Kurts Charakterfehlern heranzog, zum Beispiel seines übermäßigen Ehrgeizes und seiner notorischen Fremdgeherei) — als sie ihn so dasitzen sah, spitzbübisch über den eigenen Scherz schmunzelnd, verspürte sie plötzlich Zuneigung zu diesem Menschen. Mehr noch, sie verspürte die überraschende Versuchung, ihm alles zu verzeihen — jedenfalls in diesem Moment, da sie gewahr wurde, dass auch Kurt alterte; wenigstens in dieser Hinsicht ließ er sie nicht im Stich.
— Weißt du, Iruschka, sagte Kurt, heute ist Sonntag, wer weiß, wie lange das schöne Wetter noch anhält. Lass uns ein bisschen rausfahren in den Wald, Pilze suchen oder irgendwas.
— Du suchst doch nicht gern Pilze, sagte Irina.
Und nicht nur dass Kurt nicht gern Pilze suchte — er fand auch nie welche. Was Irina aber, weil sie es mit dem blinden Auge in Verbindung brachte, nicht aussprach.
— Aber ich gucke gern zu, wie du Pilze suchst, erwiderte Kurt.
— Kurtik, ich muss Essen machen, ich muss das Geschenk holen für Wilhelm …
— Was denn für ein Geschenk?
Irina verdrehte die Augen.
— Wilhelm bekommt seit dreißig Jahre dasselbe Geschenk!
Es handelte sich um zehn Schachteln Belomorkanal : klassische russische Papirossy, die Irina im Buffet des sogenannten Hauses der Offiziere für ihn besorgte — abscheuliches Zeug eigentlich, das Wilhelm aus reiner Angeberei rauchte, um seinen Genossen vorzuführen, wie er das Pappmundstück zu knicken verstand, während er seine drei Brocken Russisch zum Besten gab und vage Andeutungen über seine «Moskauer Zeit» machte.
— Iruschka, wandte Kurt ein, Wilhelm raucht seit zwei Jahren nicht mehr.
Das Dumme war: Kurt hatte recht. Nach seiner schweren Lungenentzündung (allerdings hatte er schon mehrere schwere Lungenentzündungen gehabt) hatte Wilhelm das Rauchen aufgegeben; beim letzten Geburtstag hatte er die Belomorkanal sogar an Horst Mählich weiterverschenkt, der sich nicht entblödet hatte, sofort eine Papirosse zu knicken und vor versammelter Mannschaft zu rauchen.
— Und wer kocht Mittag?
— Machst du was Einfaches, sagte Kurt.
— Was Einfaches! Irina schüttelte den Kopf. Sascha kommt — und ich mache was Einfaches!
— Warum denn nicht?
— Weil wir immer, wenn Sascha am ersten Oktober kommt, Pelmeni essen.
— Ach was, sagte Kurt, ist doch völlig egal.
Er schlug die Kuppe seines Frühstückseis an und begann die Schalen in den Eierbecher zu pellen, eine Methode, die Irina rücksichtslos fand, weil es unangenehm war, die Eierschalen dann wieder aus den Bechern zu klauben.
Aber sie sagte nichts. Nahm einen tiefen Zug, sodass ihr ein bisschen schwindelig wurde. Hörte, wie Nadjeshda Iwanowna aus dem Badezimmer kam.
— Ich gehe erst mal ins Bad, sagte Irina.
Als Irina aus dem Bad zurückkam, blätterte Kurt in der Zeitung. Sein Teller war noch immer unbenutzt, ohne Krümel.
— Warum isst du nichts, sagte Irina. Du kriegst bloß wieder Magenschmerzen.
— Wirklich kein einziges Wort, sagte Kurt. Keine Silbe über Ungarn, kein Wort über Flüchtlinge, nichts über die Botschaft in Prag …
Er faltete die Zeitung zusammen, knallte sie auf den Tisch. Auf der Titelseite war groß zu lesen:
IN DEN KÄMPFEN UNSERER ZEIT
STEHEN DDR UND VR CHINA SEITE AN SEITE
Irina hatte die Überschrift schon gestern gesehen — es war die Wochenendausgabe des ND , die Kurt noch nicht gelesen hatte, weil gestern die Literaturnaja Gazeta aus Moskau gekommen war. Irina fragte sich, warum er diesen Mist überhaupt noch las: Neues Deutschland!
Kurt tippte mit dem Finger auf die Zeitung:
— Verstehst du, was die damit sagen wollen?
Irina zuckte mit den Schultern. Auch das Foto hatte sie schon gesehen: irgendwelche Bonzen, die in drei langen Reihen hintereinanderstanden, so grobkörnig, dass man die zahlreichen Chinesen nur mit Mühe von den Deutschen unterscheiden konnte. Ein ganz normales, typisches, dämliches ND -Foto, aber doch besonders dämlich angesichts der Tatsache, dass ihnen gerade die Leute wegliefen (eine Tatsache, die Irina jedoch, im Gegensatz zu Kurt, weniger mit Besorgnis als mit Schadenfreude erfüllte).
— Das ist eine Warnung, dozierte Kurt. Das bedeutet: Leute, wenn es hier zu irgendwelchen Demonstrationen kommt, dann machen wir das wie die Chinesen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Herrgott, nee wirklich, Beton, sagte Kurt. Beton!
Er nahm ein Weißbrot aus dem Korb und begann es mit Butter zu beschmieren.
Das Bild, das bei den Worten «Platz des Himmlischen Friedens» in Irinas Kopf auftauchte: ein dünner Mensch im weißen Hemd, der eine Kolonne von vier oder fünf Panzern zum Stehen brachte. Sie erinnerte sich, wie sie vor dem Fernseher den Atem angehalten hatte, als der erste Panzer, Rauchwolken ausstoßend und beängstigend schwingend, versucht hatte, sich an dem Menschlein vorbeizumanövrieren. Sie wusste, wie man sich fühlte so nah an einem Panzer. Zwei Jahre lang war sie, wenn auch nur als Sanitäterin, im Krieg gewesen. Sie erkannte einen T-34 am Anfahrgeräusch.
— Du sprichst aber mal mit Sascha, sagte Irina. Nicht dass er irgendwelchen Unsinn macht.
Kurt winkte ab.
— Als ob Sascha auf mich hören würde!
— Trotzdem, du musst mit ihm sprechen.
— Was soll ich ihm denn sagen? Guck dir doch diesen Schwachsinn an — Kurt tippte mit dem Finger so heftig auf das ND , dass es Irina schmerzte — Lüge und Schwachsinn!
— Das erzähle mal deiner Mutter heute nachmittag.
Irina angelte sich eine Zigarette aus der Schachtel. Kurt griff nach ihrer Hand.
— Komm, Irina, jetzt iss erst mal was.
Die Wohnzimmeruhr schnurrte ihr Neun-Uhr-Schnurren. Für ein paar Augenblicke verharrten beide, wie auf Verabredung — man musste schon genau hinhören, wenn man die Zeit aus dem tonlosen Schnurren heraushören wollte. Dann sagte Kurt:
— In Ordnung, ich spreche mit Sascha.
Er begann sein Ei zu löffeln, hielt aber noch einmal inne und fügte hinzu:
— Aber nach dem Frühstück gehen wir ein bisschen spazieren.
Irina nahm sich nun ebenfalls ein Brot aus dem Korb, beschmierte es mit Butter und Käse, rechnete durch, wie viel Zeit ihr zum Spazierengehen blieb, wenn sie das Russenmagazin einsparte. Andererseits: Sie hatte keine Lust spazieren zu gehen, schon gar nicht mit Kurt, der immer vorneweg rannte. Auch hatte sie gar keine passenden Schuhe.
— Soll ich Vera anrufen, fragte Kurt. Vielleicht kommt sie mit.
— Ach sooo, sagte Irina, darum geht es!
— Was? Worum geht es?
— Hast du Sehnsucht nach Vera, ja?
— Vera ist deine Freundin, sagte Kurt. Ich dachte, du langweilst dich mit mir allein.
— Vera war nie meine Freundin, sagte Irina.
— Wunderbar, sagte Kurt, dann gehen wir allein.
Irina schob das Brot weg, zündete die Zigarette an.
— Ira, was soll denn das jetzt.
— Nichts, sagte Irina. Du kannst mit Vera spazieren gehen.
— Ich will nicht mit Vera spazieren gehen, sagte Kurt.
— Entschuldige, sagte Irina, eben hast du gesagt, du willst mit Vera spazieren gehen.
Einige Augenblicke war es still. Dann krächzte eine Tür, und im Flur war das Schlurfen Nadjeshda Iwanownas zu hören, kam näher, stockte … Irina riss die Tür auf und reichte ihrer Mutter den Teller mit dem fertiggeschmierten Brot.
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