— Das ist ja nicht auszuhalten, Affentheater!
Flitzebogen bauen. Pfeile aus einem namentlich nicht bekannten Gesträuch, Spitzen mit Kupferdraht umwickelt. Uwe Ewald schießt Frank Petzold ins Auge. Krankenhaus, Riesenanschiss.
Mit Kreide auf der Straße malen. Peter Hofmann malt ein Hakenkreuz. Macht daraus aber sofort ein Fenster — durch Ergänzung von Strichen.
Ebenfalls streng verboten: Betreten des Bunkers. Die Großen tun es trotzdem. Die Kleinen auch. Als Alexander den Bunker betritt, erscheint ein Phantom aus der Tiefe: nur ein Kopf, die Wangen rot leuchtend. Vor Grauen richten sich Alexanders Haare auf. Stumm flieht er zum Ausgang.
Nicht verboten, aber irgendwie auch nicht erlaubt: mit Renate Klumb Reiter und Pferd spielen. Sie muss sich ins Gras legen, bäuchlings, den Rock hoch. Er setzt sich drauf. Bewegen braucht Renate sich bei diesem Spiel nicht. Es reicht, dass sich Haut und Haut an einigen Stellen berühren.
Grüne Äpfel fressen mit Matze. Und Durchfall.
Katrin Mählich klemmt sich die Finger im Liegestuhl.
Im Sandkasten bei Hofmanns werden Städte für Feuerkäfer gebaut. Die gibt’s jetzt in Massen. Die Steine sind von der Sonne warm, darauf sitzen sie, reglos, in Scharen.
Und gerade als der Sommer vollständig zum Stillstand kommt, als die Tage sich nicht mehr von der Stelle bewegen, als die Zeit, allen Versprechungen zum Trotz, zu vergehen aufhört und Alexander es schon fast vergessen hat, sagt seine Mutter:
— Nächste Woche fahren wir zu Baba Nadja.
— Nächste Woche, verkündet Alexander, fahr ich in die Sowjetunion.
Achim Schliepner zeigt sich wenig beeindruckt.
— Die Sowjetunion ist das größte Land der Welt, sagt Alexander.
Aber Achim Schliepner sagt:
— Amerika ist größer.
Die Reise: Grüner Waggon. Schlafwagen, gemütlich wie ein Häuschen auf Rädern. Man konnte auch Tee bestellen. Auf den Teegläsern war der Kreml drauf. Um den Kreml herum kreiste ein kleiner Sputnik.
Räderwechsel in Brest. Breitere Spur für die Sowjetunion.
— Stimmt’s, Mama, die Sowjetunion ist das größte Land der Welt.
— Ja, natürlich.
Er erinnerte sich an nichts. Aber er kannte alles . Sogar den Geruch der Moskauer Taxis: halb nach angebranntem Gummi, halb nach Benzin. Ganz Moskau schien ein bisschen nach Taxi zu riechen.
Der Rote Platz: eine Schlange vorm Mausoleum.
— Nein, Saschenka, so viel Zeit haben wir nicht.
Dafür Eskimo-Eis. Und Prostokwascha mit Zucker.
Die Metro: gigantisch. Vor der Rolltreppe hatte er ein bisschen Angst. Noch mehr vor den Türen.
Dann nochmal drei Tage Zugfahrt. Swerdlowsk umsteigen. Dann noch einen halben Tag. Und dann, endlich, Slawa.
Der Bahnhof lag außerhalb. Ein Jeep holte sie ab, umfuhr in weiten Schleifen die Löcher im Weg. Keine Löcher: Krater.
Die Siedlung. Bretterzäune. Häuser aus Bohlen. Und jedes sah aus, als würde Baba Nadja dort wohnen.
Der Fahrer hupte, Baba Nadja trat vor die Tür.
— Warum weint Baba Nadja?
— Weil sie sich freut, sagte Mama.
Das Haus war klein. Eine Küche, ein Zimmer. In der Mitte des Hauses ein Ofen. Auf dem Ofen schlief Baba Nadja. Mama und Alexander schliefen im Bett.
Der Hof: eine Sauna, ein Stall. Der schwarz-weiße Hund an der Kette hieß Drushba. Drushba hieß Freundschaft. Freundschaft bellte. Die Kette rasselte. Baba Nadja schimpfte:
— Freundschaft, halt’s Maul.
Im Stall wohnten die Kuh und das Schwein. Die Kuh war braun und hieß Marfa. Das Schwein hieß einfach nur Schwein. So wie Wilhelm einfach nur Wilhelm hieß.
Vor dem Schwein hatte er Angst. Wenn man es rausließ, raste es über den Hof und quietschte. Auch Freundschaft hatte Angst vor dem Schwein. Vor Freundschaft brauchte man sich indes nicht zu fürchten.
Stattdessen durfte er mit Freundschaft spazieren gehen. Er durfte überhaupt alles. Er durfte aufs Dach. Er durfte durch riesige Pfützen waten. Nur nicht in den Wald.
— Keinen Schritt in den Wald, sagte Baba Nadja.
Denn im Wald verirrte man sich. Und dann fraßen einen die Wölfe.
— Und dann finden wir nur noch deine Knochen, sagte Baba Nadja
— Nun hör doch auf, sagte Mama.
In den Wald durfte er trotzdem nicht.
— Auch die Mücken können dich auffressen, sagte Mama.
Aber das glaubte er nicht. Dann schon eher die Wölfe.
Sehr interessant: Wasser aus dem Brunnen holen. Baba Nadja hatte eine Art Bügel, den legte sie sich über die Schultern, links und rechts einen Eimer dran, dann gingen sie los. Der nächste Brunnen war nicht weit. Den Eimer hängte man an einen Haken. Runter ging er von ganz allein. Alexander durfte mit hochkurbeln.
Einmal die Woche kam Brot. Dann stand eine lange Schlange vor dem Laden. Jeder bekam drei Laib Brot. Auch Alexander. Zu dritt bekamen sie neun. Jedes kostete elf Kopeken. Drei Brote aßen sie selber, sechs kriegte die Kuh. In Wasser eingeweicht. Die Kuh schmatzte. Es schmeckte ihr.
Elektrischen Strom gab es bei Baba Nadja. Gas gab es nicht. Baba Nadja kochte alles in einer Nische im Ofen. Für Tee wurde der Samowar angeheizt. Es gab schwarzen Tee: früh, mittags, abends. Der Samowar summte. Baba Nadja spielte mit ihm Dummkopf, das Kartenspiel.
Abends kam Besuch: Pawel Awgustowitsch, mit Krawatte und Anzug. Ein seltsamer Mensch, dünn und altmodisch. Küsste Mama die Hand.
— Eine Schande ist das, sagte Mama zu Baba Nadja: Pawel Awgustowitsch hat am Konservatorium studiert.
— Was will man machen, antwortete Baba Nadja. Gott hat es nun mal so bestimmt.
Anderntags kamen alte Frauen mit Kopftüchern. Sie sangen bis in die Nacht. Zuerst lustige Lieder. Dabei klatschten sie in die Hände, manche tanzten sogar. Dann sangen sie traurige Lieder. Dann weinten sie. Zum Schluss umarmten sich alle und wischten sich die Tränen aus dem Gesicht.
— Schade, sagte Alexander, dass wir zu Hause nicht auch alle in einem Zimmer wohnen.
Wieder zu Hause. Zweitenfreitag zu Omi, jetzt hatte er was zu erzählen.
— Wir sind fünf Tage Zug gefahren!
— Das ist sehr interessant, sagte Omi. Aber willst du das nicht lieber nachher beim Abendbrot erzählen, dann hört Wilhelm es auch. Für Wilhelm ist das auch alles sehr interessant.
Die Sache war ihm nicht ganz geheuer. Omi ermutigte ihn:
— Wir machen es so: Ich geb dir ein Stichwort, und dann legst du los.
Stichwort?
— Zum Beispiel «Sowjetunion», erklärte Omi. Ich sage, zum Beispiel: Ich würde gern mal Urlaub in der Sowjetunion machen! Das ist für dich das Stichwort.
Wilhelm klatschte sich Butter aufs Brot.
— Die Indianer, erklärte er, sind heute die Ärmsten der Armen. Unterdrückt, ausgebeutet, ihres Landes beraubt.
Omi sagte:
— In der Sowjetunion gibt es keine Ausbeutung und keine Unterdrückung.
— Das ist klar, sagte Wilhelm.
Omi schaute Alexander an und sagte noch einmal:
— In der So-wjet-u-nion gibt es keine Ausbeutung und keine Unterdrückung!
— Ach ja, sagte Wilhelm, du warst doch gerade in der Sowjetunion. Erzähl doch mal!
Plötzlich war Alexanders Kopf leer.
— Na was, sagte Wilhelm, redest du nicht mit einfachen Leuten?
— Bei Baba Nadja, sagte Alexander, kommt das Wasser aus einem Brunnen.
Wilhelm räusperte sich.
— Na schön, sagte er, kann schon sein. Als wir in der Sowjetunion waren, Lotti, weißt du noch, da gab es sogar noch in Moskau Brunnen. In Moskau, stell dir das vor! Und heute? Du warst doch in Moskau, oder?
Alexander nickte.
— Na bitte, sagte Wilhelm. Und wenn du groß bist, dann muss man nirgends in der Sowjetunion mehr Wasser aus einem Brunnen holen. Wenn du so groß bist wie dein Vater, dann ist in der Sowjetunion längst der Kommunismus angebrochen — und vielleicht schon überall auf der Welt.
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