Die Stimme in seinem Ohr malte ein paar kleine Schleifchen. Hüpfte, gackerte. Lachte …
Er nahm die Schlafmaske ab. Prüfte, ob jemand sein Erröten bemerkt hatte … Aber niemand kümmerte sich um ihn. Der dicke Goldkettchenmensch (der es immerhin auch geschafft hatte, keinen Krebs zu bekommen) starrte auf seinen Schirm. Die bleiche Mutter versuchte ein wenig zu schlafen. Nur das Kind sah ihn an, mit glänzenden, colafarbenen Augen.
Mexiko, Flughafen. Warmluftgebläse. Beiläufig beim Betreten der Stadt (des Landes, des Kontinents) die Feststellung, dass es nicht so riecht wie der Nitratdünger im Wintergarten seiner Großmutter.
Taxifahrt. Der Fahrer fährt wie eine gesengte Sau, schief auf seinem Sitz hängend, halb aus dem offenen Fenster gelehnt. Achterbahn. Alexander lehnt sich zurück. Der Wagen rast über mehrspurige Avenidas, der Fahrer reißt das Steuer herum, fährt mit singenden Reifen im Kreis, irgendwie falsch herum, rast durch Nadelöhre, der Verkehr draußen brüllt, scharfe Rechtskurve, dann wird die Straße schmal, links und rechts Menschen auf den Gehwegen, der Fahrer fährt bei Rot, jetzt, zum ersten Mal, bewegt er den Kopf, um zu schauen, ob die Straße frei ist.
Hotel Borges: Empfehlung des Backpacker . Im Centro historico , 35 Dollar die Nacht. An der Rezeption ein Milchgesicht im blauen Anzug, erklärt ihm etwas, das er nicht versteht. El cinco piso , so viel versteht er: fünfter Stock. Das Zimmer ist groß, die Möbel sämtlich mit einer Spritzpistole auf Bordeaux umgespritzt, nicht mal geschmacklos. Alexander lässt sich aufs Bett fallen. Und jetzt?
Alexander geht auf die Straße. Mischt sich unter das Volk. Es ist acht Uhr abends. Die Straßen sind voll, er schwimmt mit der Menge, atmet den Atem der anderen. Kleine Polizisten, die trotz der Hitze schusssichere Westen tragen, pusten in ihre Trillerpfeifen. Als er über ein gullydeckelgroßes Loch im Gehweg stolpert, fällt er den Entgegenkommenden in die Arme. Sie lachen, richten ihn wieder auf, den großen, tollpatschigen Europäer. Dann ist er in einem Park. Überall werden Dinge feilgeboten. In riesigen Pfannen schmoren Fleisch und Gemüse friedlich nebeneinander. Es gibt Decken und Schmuck, es gibt alte Telefone, Kreissägen, Wecker, es gibt gepökelte Schweinehaut, es gibt Dinge, die er nicht kennt, es gibt eigentlich alles: Federschmuck, Skelett-Hampelmänner, Lampen, Kruzifixe, Stereoanlagen, Hüte.
Alexander kauft einen Hut. Er hat, weiß er, schon immer einen Hut kaufen wollen. Jetzt gibt es Argumente dafür. Jetzt könnte er sagen: In Mexiko braucht man einen Hut — wegen der Sonne. Aber er sagt es nicht. Er kauft den Hut, weil er sich mit Hut gefällt. Er kauft den Hut, um gegen die ihm anerzogenen Prinzipien zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen seinen Vater zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen sein ganzes Leben zu verstoßen, in dem er keinen Hut trug. Warum eigentlich? Dabei ist es so einfach! Ihm ist zum Lachen zumute. Er lacht sogar. Nein, natürlich lacht er nicht, aber er lächelt. Er lässt sich treiben. Jetzt erst gehört er wirklich dazu. Jetzt, mit dem Hut, ist er einer von ihnen. Jetzt kann er plötzlich Spanisch: Wie viel kostet … Ich möchte … Taco, Tortilla? … Gracias, Señor … Señor! Er verbeugt sich förmlich, wie es sich bei der Verleihung eines Ehrentitels gehört. Die alte Frau kichert. Sie hat nur noch einen Zahn. Alexander treibt weiter. Futtert Tortilla. Gehen, stehen, Verkehr. Wieder Schwärme winziger Polizisten, sinnlos pfeifend, könnte man meinen, aber jetzt, plötzlich, versteht er: Sie pfeifen — nichts weiter. Wie Vögel. Sie pfeifen, weil sie sind. Verblüffende Erkenntnis. Sie schlagen mit den Flügeln, flattern mit den Händen, undeutbar, irrelevant, während der Verkehr, irgendwelchen Naturgesetzen gehorchend, sich selbst reguliert.
Dann ist Musik zu hören. Keine Trillerpfeifen, richtige Musik. Undeutlich noch, hin und wieder springt eine Geige oder eine Trompete hervor: Geige und Trompete! Die typisch mexikanische Instrumentierung, wie auf der Schellackplatte von Oma Charlotte. Seine Erregung nimmt zu, er beschleunigt den Schritt. Jetzt klingt es, als stimmte ein riesenhaftes Orchester die Instrumente. Sänger scheinen sich einzusingen. Was geht da vor? Alexander steht auf einem hell erleuchteten Platz. Der Platz ist voller Menschen, darunter, er glaubt seinen Augen nicht zu trauen, in kleinen, an ihren jeweils einheitlichen Uniformen leicht erkennbaren Grüppchen, Hunderte Musikanten: Kapellen, große und kleine, zehnköpfige und zweiköpfige, mit wuchtigen Sombreros oder leichten Strohhüten, mit Leisten goldener Knöpfe oder silberner Borte geschmückt, mit Epauletten und Fransen, rosa, weiß oder marineblau, und sie alle machen Musik! Gleichzeitig! Unerklärlicher Vorgang. Wie das plötzliche Auftauchen rätselhafter Insekten. Eine Prozession? Ein Streik? Singen sie gegen den Weltuntergang an? Ist hier der einzige Platz, von dem aus irgendein Gott sie erhören kann?
Alexander geht umher, lauscht wie in Trance, wandert von Kapelle zu Kapelle, sucht mit den Ohren seine Musik: Dort hinten … Oder nein. Aber da … So ähnlich! Steht plötzlich vor einem der Sänger. Sein Anzug lichtblau, das Hemd strahlend weiß, die Haare pechschwarz, und um den Hals trägt er eine bombastische Fliege.
— México lindo, sagt Alexander.
Der Sänger sagt: Sí!
— Jorge Negrete, sagt Alexander.
Der Sänger sagt: Sí!
Die Musiker ziehen nochmal an ihren Zigaretten, stellen die Flaschen ab, ziehen sich die Hose hoch, rücken ihre Sombreros zurecht, und plötzlich läuft Omis uralte Schellackplatte: Rum-tata-rum-tata … Voz de la guitarra mia … al despertar la mañana …
Ungläubig starrt Alexander den Sänger an. Die aberwitzige Fliege, das glänzende, pechschwarze Haar, die weißen Zähne, die unter dem Schnurrbart aufblitzen und Laute formen, die genau denen auf der Schellackplatte entsprechen, die vor tausend Jahren in tausend Stücke zersprungen ist …
Natürlich kann das alles nicht stimmen. Wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Ein Trickbetrug.
México lindo y querido
si muero lejos de ti
que digan que estoy dormido
y que me traigan aquí
Das Lied ist zu Ende. Er merkt, dass ihm Tränen über die Wangen laufen. Die Musiker lachen. Der Sänger fragt ihn:
— Americano?
— Alemán, sagt Alexander leise.
— Alemán, wiederholt der Sänger, laut, für die anderen.
— Ah, Alemán, sagen sie.
Hören auf zu lachen. Nicken anerkennend, als sei er den Weg von Deutschland zu Fuß gelaufen. Der Sänger klopft ihm auf die Schulter.
— Hombre, sagt er.
Alexander geht. Die Musiker winken.
Er geht langsam. Er singt. Es sind jetzt weniger Menschen auf der Straße. Er kauft ein Bier. Die Tränen trocknen auf seinen Wangen. Er atmet die Nachtluft, sie ist jetzt kühler. Vielleicht nur, dass die Körperwärme der Menge fehlt? Die Trillerpfeifen schweigen. Sterne sind nicht zu sehen. Er ist in Mexiko. Wie viele Jahre galt es als sicher, dass er dieses Land niemals, nie im Leben betreten würde? Jetzt ist er hier. Jetzt geht er durch diese Stadt. Trickbetrug alles. Die Mauer. Der Krebs. Wer sagt, dass ich Krebs habe? Plötzlich, wenn er zurückdenkt, kommt ihm das alles irrsinnig vor. Die Diagnose: eine Behauptung. Das Krankenhaus: eine durchgeknallte Maschinerie, die Krankheitsbezeichnungen produziert. Was denn für eine Krankheit? Irgendwelche pH-Werte, irgendein Scheiß. Einfach weggehen. Sich losreißen aus dieser kranken, krankmachenden Welt …
Hier bin ich. Ich grüße dich, große Stadt. Ich grüße den Himmel, die Bäume, die Löcher im Asphalt. Ich grüße die Tortillaverkäuferinnen und die Musikanten. Ich grüße euch alle, die ihr auf mich gewartet habt. Ich bin da. Ich habe mir einen Hut gekauft. Das ist der Anfang.
Читать дальше