Wenn die wüssten, dachte Charlotte. Sie hielt einen Augenblick inne (sie war gerade dabei, die winzigen Gurken in winzige Scheiben zu schneiden). Hielt inne und dachte an Hamburg: Wilhelms «Geheimdiensttätigkeit». Drei Jahre lang hatte er im Büro gesessen und Zigaretten geraucht. Das war Wilhelms «Geheimdiensttätigkeit». Drei Jahre auf verlorenem Posten. Nichts ging mehr. Nachrichten über Verhaftungen trudelten ein, und Wilhelm saß da und wartete. Worauf eigentlich? Worauf hatten sie eigentlich gewartet? Wofür hatten sie ihr Leben riskiert? Sie wusste es nicht. Jeder weiß nur so viel, wie er wissen muss , sagte Wilhelm. Und sie, anstatt mit den Jungs nach Moskau zu gehen, war in Deutschland geblieben und hatte die Ehegattin gespielt: zur Tarnung. Fast war sie — das konnte man natürlich keinem erzählen — froh gewesen, als alles aufflog und sie Hals über Kopf abhauen mussten. Mit Schweizer Pässen. Bei Wilhelms Berliner Dialekt. Du lieber Gott, das war ein Geheimdienst. Nicht einmal anständige Pässe konnten sie einem beschaffen.
Erbärmlich, die Brote: Der frische Teig war beim Bestreichen gerissen. Wütend verteilte Charlotte Gurkenscheiben darauf, obwohl sie, je mehr sich die Sache dem Ende näherte, desto sicherer war, dass sie nicht in den Keller gehen würde …
Was nun? Der Akademieapparat fiel ihr ein: Erst kürzlich hatte Wilhelm einen Anschluss seines sogenannten Akademieapparates in den Keller verlegen lassen — ein internes Betriebstelefon, das Wilhelm, obwohl er bereits seit sechs Jahren aus der Akademie ausgeschieden war, unverdrossen weiterbenutzte. Sie ging zu ihrem Akademieapparat und rief Wilhelm auf seinem Akademieapparat an, um ihm mitzuteilen, dass die Brote auf dem Küchentisch standen — und obwohl sie im selben Moment von einem mörderischen Hunger überfallen wurde, verdrückte sie sich erst einmal aus der Küche, um nicht dabei zu sein, wenn Schlinger das Tablett holte.
Sie aß viel und schlief schlecht. Nachts gegen halb drei setzte der Harndrang ein, sie wankte durch den Flur wie ein Kind, ängstlich und dünnhäutig. Zur Wolfsstunde, wie ihre Mutter diese Uhrzeit genannte hatte, war sie von jeher den verschiedensten Anfechtungen ausgesetzt. Selbst die Muschel im Flur war ihr unheimlich; sie sah nicht nach links, nicht nach rechts, versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Aber als sie auf dem Klo saß und darauf wartete, dass das letzte Tröpfchen abging, kam ihr auf einmal der Verdacht, ihr Artikel könnte dem Genossen Hager missfallen haben; sie könnte sich völlig verrannt haben und ihr Artikel sei in Wirklichkeit schlecht und kleinlich und rückwärtsgewandt …
Am Morgen war der Gedanke immer noch da, wenn auch durch das Tageslicht gemildert. Trotzdem widerstand Charlotte der Versuchung, im Morgenrock zum Briefkasten zu rennen und nachzuschauen, ob das ND schon gekommen war. Sie stand auf wie immer, duschte kalt, bereitete sich einen Muckefuck und ein Toastbrot mit Butter, erst dann ging sie die Zeitung holen, brachte sie, zusammen mit Toast und Muckefuck, in den Wintergarten, schaffte es sogar, zuerst die Titelseite zu überfliegen, auf der von kriminellen Machenschaften an der Sektorengrenze die Rede war, und blätterte dann geduldig bis zur Kulturseite — und da war er!
Mehr als eine Frage des guten Geschmacks. Wolfgang Koppes Roman «Mexikanische Nacht» im Mitteldeutschen Verlag. Von Charlotte Powileit
Es war nicht das erste Mal, dass etwas von ihr gedruckt wurde, aber Routine war es keineswegs. Obwohl sie den ganzen Artikel im Grunde auswendig konnte, las sie noch einmal jedes Wort, genüsslich, mit Toastbrot und Muckefuck. Jetzt, wo er gedruckt stand, wirkte der Artikel noch fester, noch schlüssiger als vorher.
Im Grunde genommen handelte es sich um eine Rezension, aber da sie auch grundsätzliche Fragestellungen behandelte, hatte man Charlotte eine Halbseite eingeräumt: alle sechs Spalten. Es ging um das Buch eines westdeutschen Schriftstellers, das jüngst in einem DDR-Verlag erschienen war. Es war ein schlechtes, ein ärgerliches Buch, Charlotte hatte es von der ersten Seite an gründlich missfallen. Es handelte von einem jüdischen Emigranten, der nach Deutschland — ins westliche Deutschland — zurückkehrte und feststellte, dass die faschistische Ideologie dort immer noch fortlebte. So weit, so gut. Anstatt aber — immerhin eine denkbare Alternative — in die DDR zu gehen, kehrte er nach Mexiko zurück, wo er ein bisschen über Leben und Tod philosophierte und sich schließlich das Leben nahm. Zwar war es spannend und sprachlich brillant, auch vertrat der Autor zweifellos eine antifaschistische Gesinnung — aber das war auch schon alles.
Noch das geringste Übel: Mexiko war vollkommen falsch dargestellt, als wäre der Autor nie da gewesen.
Gegen die Tatsache, dass die Hauptfigur homosexuell war, hatte Charlotte im Prinzip nichts einzuwenden, auch wenn sie, das musste sie zugeben, auf unangenehme Weise an ihren Bruder Carl-Gustav denken musste, wenn der Ich-Erzähler seine homoerotischen Abenteuer mit minderjährigen mexikanischen Strichjungen schilderte: langatmig, zermürbend, ekelhaft.
Ihr Haupteinwand war jedoch politischer Art. Das Buch war negativ. Defätistisch. Es zog den Leser in dunkle Sphären hinunter, machte ihn passiv und klein, stellte ihn hilflos in eine Welt, die grausam war und schlecht, zeigte keinerlei Auswege auf — weil es, so meinte der Ich-Erzähler, keine Auswege gab. Seltsamerweise überkam ihn diese Gewissheit ausgerechnet beim Anblick der Kolossalstatue der Coatlicue.
Anstatt in der Statue die Dialektik von Leben und Tod zu erkennen, anstatt sie als Ausdruck einer großen Idee und als Hervorbringung eines heroischen Volkes zu würdigen, erblickte der Ich-Erzähler in ihr eines der «kühnsten und kältesten Monumente der Vergeblichkeit», ein «reines Bekenntnis zur Hässlichkeit der Existenz», woraus er den Schluss zog, dass es am besten sei, allein in den Dschungel zu gehen — und darin zu verschwinden.
Nein, dieses Buch, las Charlotte und fand sich mit jedem Wort, jeder Silbe im Recht, dieses Buch eignet sich nicht, um die Jugend zu einer weltzugewandten, humanistischen Haltung zu erziehen. Es eignet sich nicht, um die Menschen gegen das drohende atomare Inferno zu mobilisieren. Es eignet sich nicht, um den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und an den Sieg des Sozialismus zu fördern, und deswegen gehört es nicht in die Regale der Buchläden unserer Republik.
Punkt.
Der Muckefuck war ausgetrunken, der Toast gegessen. Übrig blieb ein komisches Ziehen im Bauch: Irgendwo in ihren Unterlagen lungerte noch eine Abbildung der Coatlicue, ausgeschnitten aus dem Siempre . Oder war sie von Adrian?
Die Versuchung, die Wirkung von Coatlicue zu prüfen — fast zehn Jahre danach.
In der oberen Etage begann es zu rumoren: Acht Uhr, Wilhelm stand auf. Das Badewasser rauschte. Tatsächlich pflegte Wilhelm schon morgens zu baden und, während er in der Wanne saß, eine Viertelstunde täglich Höhensonne zu nehmen. Charlotte brachte die Zeitung zurück in den Briefkasten — ein bisschen albern, gewiss, aber der Stolz auf ihren Artikel war ihr peinlich, und sie wollte, dass Wilhelm die Zeitung vorfand wie immer und den Artikel selbst entdeckte.
Viertel nach acht standen die Haferflocken bereit. Wilhelm kam die Treppe herunter, in bester Laune, sie erkannte es am Schritt, und bereits in Krawatte und Anzug (einen Anzug trug er sogar unterm Blaumann). Er marschierte schnurstracks zum Briefkasten, holte sein ND , überflog, wie gewöhnlich, die erste Seite, um sie, während er seinen Haferflockenbrei löffelte, zu kommentieren. Sein heutiger Kommentar:
— Ein Affentheater mit Westberlin. Dann muss man die Staatsgrenze eben abriegeln!
Dummes Zeug natürlich, aber Charlotte hatte nicht vor zu streiten. Sie schwieg, löffelte ihre Haferflocken. Wilhelm verstand nicht die Bohne von Außenpolitik. Viermächtestatus, Potsdamer Abkommen: Böhmische Dörfer für ihn, dachte Charlotte. Sagte aber:
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