Nadjeshda Iwanowna schnäuzte sich und nahm das Strickzeug zur Hand, das sie irgendwann heute morgen auf dem Kopfkissen abgelegt hatte, die Socken für Sascha, dann kriegte sie eben Kurt, eine Socke war schließlich schon fertig, bei der anderen arbeitete sie sich gerade an die Ferse heran, von Socken verstand sie was, hatte schon viele Socken gestrickt, die ersten so groß wie Eierwärmer, dreißig Jahre war das nun her, aber noch heute hatte sie den Geruch seiner Nackenhaare in der Nase, wenn sie daran dachte, wie er auf ihrem Schoß gesessen hatte, und sie hatten Maltschik-Paltschik gespielt, stundenlang, oder sie hatte ihm etwas vorgesungen, das Lied vom Zicklein, das nicht auf die Großmutter hören wollte, das wollte er immer hören, wieder und wieder, wird es vergessen haben, der Junge, obwohl er’s schon beinahe auswendig konnte mit seinen zwei Jahren, aber immer: Waruhum, waruhum, nur Hörnlein und Hufen, vergeblich gerufen, nur Hörnlein und Hufen, na, macht nichts, vielleicht schrieb er ja mal eine Postkarte, obwohl er wahrscheinlich Wichtigeres zu tun hatte dort, musste sich erst mal an alles gewöhnen, Amerika, sie kannte es ja aus dem Fernsehen, das andere Programm, zweimal schalten, sie guckte, ehrlich gesagt, meistens das andere Programm, Breschnew hatte sie genug geguckt, war irgendwie doch interessanter, Amerika, auch wenn man sich manchmal nicht hinzuschauen getraute, was die alles zeigten, wenn er sich bloß nicht versündigte, dachte Nadjeshda Iwanowna, oder war, was im Fernsehen kam, bloß Fernsehen, und am Ende war’s auch nicht viel anders als hier, man konnte ja rübergucken beinahe, oder war das noch Deutschland, was man da sah, übern See, oder war Deutschland Amerika, also ein Teil davon, also der Teil von Deutschland, der ein Teil von Amerika war, zum Verrücktwerden das Durcheinander, und wozu, wenn’s am Ende das Gleiche war, wie Ira behauptete, nur dass man dort alles kaufen konnte, hatte Ira gesagt, in dem anderen Deutschland, das Amerika war, aber verstehen verstand sie es nicht: An dem Platz, wo der O-Bus ankam, dort wo Sascha zur Schule gegangen war, da konnte man auch alles kaufen, nicht einmal rationiert, so viel du tragen kannst, Milch konntest du kaufen — in Tüten, das glaubte ihr keiner in Slawa, nur, ehrlich gesagt, ob’s an den Tüten lag oder weil sie staatlich waren, die Kühe, und mit der Maschine gemolken wurden, jedenfalls dick wurde sie nicht, die Milch, wenn man sie stehen ließ, verdarb einfach nur, die Milch von den staatlichen Kühen, war eben doch was anderes, die eigene Kuh im Stall, Dickmilch mit Zucker, das hatte er gern gemocht, Quark hatte man auch, und Butter hatte man, alles hatte man, was man brauchte.
Für die Ferse musste sie die Maschenzahl in drei Teile teilen, aber sie zählte nie nach, das machte sich irgendwie immer von selbst, dann die Maschen verschränken, und dann ging’s geradeaus, immer die Nadel lang, Kurt hatte die gleiche Größe, nur dass er die Socken nie trug, ehrlich gesagt, bedankte sich immer höflich, wenn sie ihm Socken schenkte, das ja, aber was soll man machen, die Hände wollten irgendwas tun, im Frühjahr war wieder der Garten dran, wenn sie’s erlebte, aber die Zeit bis dahin musste man ja auch irgendwie rumkriegen, immer nur fernsehen, man wurde ja dumm im Kopf, manchmal las sie das Buch, das Kurt ihr gegeben hatte, lesen konnte sie schließlich, hatte sich ja alphabetisiert, als sie nach Slawa kamen, wo die Sowjetischen waren, nur dass es zu dick war, das Buch, Krieg und Frieden , wenn man in der Mitte angekommen war, hatte man den Anfang schon wieder vergessen, über die Heumahd ging’s, daran erinnerte sie sich, schwere Arbeit, sie hatte genug Heu gemäht in ihrem Leben, nach Feierabend, wenn sie vom Sägewerk kam, im August war die Heumahd, im September kamen dann die Kartoffeln dran, so war das gewesen in Slawa. Jetzt hatte sie nur noch die Gurken, aber die machten sich praktisch von selbst, nur gießen musste man sie hin und wieder, Schlauch aufdrehen und fertig, so leicht war das Leben in Deutschland, das glaubte ihr keiner in Slawa, leicht war es, aber andererseits immer so vor sich hin, und Ira meckerte auch bloß, manchmal fragte man sich, ob es ein Fehler gewesen war, das Haus aufzugeben in Slawa, aber was soll man machen, die alten Knochen, wenn man nicht einmal mehr die Leiter hochkommt zum Windbretterölen, nein, sie beklagte sich nicht, aber irgendwie reichte es langsam, immerhin achtundsiebzig war sie, ihre Schwestern hatten nicht mal die zwanzig erreicht, Ljuba und Vera, irgendwo lagen sie, zwischen Gríschkin Nagár und Tartársk, und sie saß hier noch immer, in diesem Deutschland, bekam sogar eine Pension, dreihundertdreißig im Monat, zuerst hatte sie noch für die Beerdigung gespart, hatte immer befürchtet, sie könnte sterben, bevor es für ihre Beerdigung reichte, und wer weiß, dann wurde sie womöglich verbrannt, so etwas taten die hier, aber inzwischen reichte es drei Mal, und sie war immer noch da, stopfte noch immer ihre Rente ins Kopfkissen, hundert hatte sie immer gleich Sascha gegeben, Ira nahm ja kein Geld, hatte es nicht nötig, verstehst du, hochmütig, wie sie nun einmal war, das ärgerte Nadjeshda Iwanowna.
Jetzt klopfte es an der Tür, Kurt war’s, ob sie denn mitkam nachher, zu Wilhelms Geburtstag. Herrje, heute morgen hatte sie noch dran gedacht, aber dann hatte der alte Kopf es vergessen, aber zugeben wollte sie’s nicht.
— Natürlich komm ich mit, sagte sie. Wie denn anders.
Nur der Blumenladen am Friedhof hatte längst zu, äch ty, rastjopa, was nun, eine Schachtel Pralinen hatte sie noch, hoffentlich nicht von Charlotte und Wilhelm, die schenkten ihr immer Pralinen, obwohl sie gar keine aß, aber schaden tat’s nix, hatte sie was anzubieten, wenn Sascha mit seiner Freundin kam, Kalinka oder wie, seine Neue, ob die mit nach Amerika war oder in Deutschland geblieben? Schlecht war sie nicht gewesen, die Arme ein bisschen zu dürr, zum Arbeiten taugte sie nicht, aber arbeiten arbeitete sie auch nicht, sondern war Schauspielerin, Dünne brauchte man schließlich auch im Film, oder sie schenkte Wilhelm die Gurken, gute Gurken, uralische Art, mit Knoblauch und Dill, Sascha war immer ganz wild gewesen auf ihre Gurken, allerdings, ob’s zum Geburtstag das Richtige war, sie würde Kurt fragen, immerhin neunzig, das war schon was, und dabei sah er noch gut aus, Wilhelm, beinahe wie achtzig, und immer im Anzug, wie ein Minister sah er aus und sprach auch so, mit Bedeutung, merkte man gleich, dass er rumgekommen war in der Welt, mit dem Schiff waren sie über das Meer, Gott bewahre, einmal hatte sie es gesehen, das Meer, bis zum Himmel nur Wasser, das glaubte ihr keiner in Slawa, und ganz oben, ganz auf dem Rand, krochen winzige Schiffe entlang wie auf dem Dachfirst, schreckliche Vorstellung, da war ihr die Eisenbahn lieber, wenigstens war man auf Gottes Erde, und wenn’s erst mal fuhr, dann war es gar nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, sogar schlafen schlief sie am Ende und wachte dann auf und war plötzlich in Deutschland und wusste nicht mal, wie weit es eigentlich war, Sascha hatte es ihr einmal zeigen wollen auf einer Karte, als ob man’s ersehen konnte auf einer Karte, wie weit es war, von Tartársk, beispielsweise, bis nach Gríschkin Nagár, das war auf der Karte vier Finger breit, aber in Wirklichkeit waren es vier Jahre, die sie gegangen waren, oder länger, sie wusste es gar nicht mehr, eine Ewigkeit waren sie gegangen, seit sie denken konnte, ein einziges Gehen. An Tartársk erinnerte sie sich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr, wo sie geboren war, der Vater, der nicht vom Flößen zurückgekehrt war, hatte Mutter Marfa gesagt, später hieß es dann plötzlich, er sei im Krieg gefallen, eine einzige Dunkelheit, aus der man kam, und das Erste, was sichtbar wurde, wenn sie zurückdachte, das war der Weg, ein schwaches, ein wackliges Bild: der Weg, der kein Ende nahm, und wenn sie nach unten schaute, sah sie die eigenen, dreckigen Füße, das war das Erste, woran sie sich erinnerte, und an den ewigen Durst und dass die Hand rot war von Blut, wenn man sich an die Stirn schlug, vor lauter Mücken.
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