«Von spielen kann keine Rede sein«, erwiderte sie rasch und knapp.»Ausreiseantrag. Wir müssen hier raus. Wir könnten Regine fragen.«
«Was willst du sie fragen? Wie man korrekt das Formular ausfüllt? Es wird nicht gehen. Die haben mir unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie mich nicht rauslassen werden. Ärzte werden hier zulande gebraucht … Es wäre Verrat an den Patienten, die Ihnen anvertraut sind …«
«Die können uns doch nicht einfach festhalten!«
«Doch, das können sie! Und dann sitzen wir hier, ich fliege aus der Klinik, was mir ja noch egal wäre, aber Robert und Christian … Wir hätten nichts erreicht!«
«Wir müßten nicht denunzieren!«
«Um den Preis, daß wir die Zukunft der Kinder aufs Spiel setzen?«
«Aber Menschen zu bespitzeln, ist das kein Preis?«
Richard antwortete nicht.
«Es gibt auch die Möglichkeit, daß wir hierbleiben — und Christian und Robert können den Antrag stellen. Sobald sie volljährig sind — «
«Anne! Was redest du da! Was würde passieren? Christian fliegt sofort von der EOS, und Robert werden sie gleich gar nicht zulassen.«
«Christian wird in diesem Jahr achtzehn. Robert in zweieinhalb Jahren. Sie werden ohnehin Zeit verlieren. Bei der Armee. Ob sie also auf das eine oder andere warten — «
«Du gehst davon aus, daß alles so läuft, wie du es dir vorstellst! Und wenn nicht? Wenn sie’s nicht zulassen? Wenn die Jungs nicht ausreisen dürfen? Weißt du genau, ob sie das überhaupt wollen? Wir reden hier über ihre Köpfe hinweg, vielleicht wären sie völlig überfordert?«
«Vielleicht auch nicht? Reden wir doch mit ihnen!«
«Und was sollen sie machen, während der Antrag läuft? Regine wartet seit zwei Jahren, und du weißt, wie’s ihr geht. Aus der Stadtverwaltung entlassen, vor allen Kollegen als Agentin des Imperialismus gebrandmarkt — «
«— und jetzt ist sie ungelernte Sekretärin im Joseph-Stift, und die Stelle hat sie auch nur bekommen, weil du den Ärztlichen Direktor kennst. Ich weiß!«
«Und unsere Jungs? Die würden sie aus Rache noch viel länger schmoren lassen, darauf kannst du dich verlassen! Dann sitzen sie hier, haben kein Abitur, können nicht studieren, müssen eine Lehre machen … Christian — was soll der lernen? Und vielleicht kommen sie niemals raus! Sitzen hier mit einem verpfuschten Leben … Glaubst du, das würden sie uns verzeihen?«
«Eine meiner Kolleginnen hat auch die Ausreise laufen. Sie arbeitet trotzdem bei uns, und ihre Tochter kann ihr Abi auch zu Ende machen.«
«Beim einen verfahren sie so, beim anderen so. Wer kann garantieren? Daß es bei uns so läuft wie bei deiner Kollegin, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Willst du’s auf einen Versuch ankommen lassen?«
Sie gingen mit gesenkten Köpfen nebeneinander her.
«Wie steht’s mit Sperber? Könnte der nicht was tun?«
«Ich weiß nicht. Ich kenne ihn nicht besonders gut. Ich traue ihm auch nicht, ehrlich gesagt. Wir gehen ein enormes Risiko ein, wenn ich Kontakt zu ihm aufnehme und ihm alles erzähle. Was passiert, wenn er einer von denen ist … oder mit ihnen zusammenarbeitet? Denkst du, der steht nicht mit einem Bein bei denen? Vielleicht ist er überhaupt nur vorgeschoben? Ein Köder, den sie uns hinhalten.«
«Meno sagt, daß er einigen Autoren geholfen hat.«
«Mag sein. Aber selbst wenn er nicht zu denen gehört: Hilft er auch uns? Wer weiß, welchen Autoren er geholfen hat und in welchem Zusammenhang. Wenn einem halbwegs bekannten Autor ein Haar gekrümmt wird, jault doch die Presse drüben gleich auf, aber bei uns? Bei einem Arzt und einer Krankenschwester, die niemand kennt? Und denkst du, daß Sperber etwas machen kann, wenn die andeuten, daß daran kein Interesse besteht?«»Ich bin müde … Wollen wir uns einen Augenblick setzen?«
Richard nickte. Sie waren bis zum» Oktoberblick «gelaufen, wie das kleine, von einer Pergola umgebene Rund am Mondleiten-Park offiziell hieß; die Anwohner nannten es wie früher» Philalethesblick«, nach dem Künstlernamen König Johanns von Sachsen, des Danteforschers. In der Mitte des Plateaus stand ein Obelisk mit den Namen der Weltkriegsgefallenen aus dem Viertel.»Wollen wir bei deinem Bruder vorbeischauen?«
«Nein … Das möchte ich nicht. Er würde gleich vermuten, daß etwas nicht stimmt. — Auch darüber müssen wir uns klarwerden: Wie sagen wir’s der Familie?«
«Will gut überlegt sein, ob wir’s ihnen sagen.«
«Da gibt es für mich nichts nachzudenken. Natürlich müssen wir’s ihnen sagen!«
«Auch auf die Gefahr hin, daß wir nicht sicher sein können, ob nicht zum Beispiel Ulrich — «
«Er mag in der Partei sein, aber er ist kein Denunziant!«
«Was macht dich so sicher? Hast du mich nicht selbst vor ihm gewarnt, erinnerst du dich, auf dem Heimweg von der Felsenburg?«
«Aber es ist doch die Familie … So weit würde er nicht gehen!«»Weil er dein Bruder ist — und mein Schwager? Weil er die Jungs gern hat und mit ihnen ins Fußballstadion geht?«
«Weiß nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß er fähig wäre, dich anzuzeigen. Immerhin … Ja, vielleicht kann ich es mir nicht vorstellen, weil er mein Bruder ist. Vater hat uns weder zu Duckmäusern noch zu Denunzianten erzogen, weißt du, was er gesagt hat? Der größte Lump im ganzen Land — das ist und bleibt der Denunziant!«Sie zitterte, sackte nach vorn, weinte wieder; Richard spürte, daß sie seine Nähe jetzt nicht suchte, und trat an den Rand der Brüstung, in die ein schmiedeeisernes Geländer mit einem rostzerfressenen, stilisierten Nautilus eingelassen war. Dahinter fiel der Park steil ab. Im Tausendaugenhaus und im» Elefanten «gegenüber brannte Licht, bei Teerwagens wurde ein Fenster geöffnet. Musikfetzen, Stimmen, Gelächter. Man schien zu feiern. Wie unbeschwert … Richard verdrängte diesen Gedanken.»Wollen wir zu Regine fahren?«
«Nein … Nicht jetzt«, murmelte Anne. Er kramte in seinen Taschen, fand das Zwanzigpfennigstück, das er für Notfälle bei sich trug.»Ich könnte sie anrufen. Vorn an der Kreuzung steht eine Telefonzelle.«
«Es ist nett von dir, daß du mich abzulenken versuchst, aber … nein. Ich möchte nach Hause. Ich bin sehr müde.«
Er ging zu ihr, setzte sich neben sie auf die Bank.»Anne. Es würde uns vielleicht helfen, mit ihr darüber zu sprechen. Vielleicht sieht sie Möglichkeiten, die wir übersehen. Und ihr können wir vertrauen.«
«Ihr schon. Den Wanzen in ihrer Wohnung nicht. — Willst du es deinen Kollegen sagen?«
«Nein. Zumindest vorläufig nicht. Ich kann ihnen genausowenig trauen wie Sperber. Am ehesten noch Wernstein, aber wer weiß, gerade die vertrauenswürdigsten … Ich kann etwas anderes tun, bevor ich mich den Kollegen öffne. Ich kann annehmen.«
«Das willst du tatsächlich tun? Du willst für diese Lumpen arbeiten?«
«Anne — doch nur zum Schein! Ich liefere ihnen belangloses Zeug ab, stell’ mich dumm — und das solange, bis sie von selber merken, daß sie mit mir keinen guten Fang gemacht haben. Ich muß für sie völlig unbrauchbar sein, vielleicht habe ich damit eine Chance.«
«Glaubst du nicht, daß sie das merken werden?«
«Sicher werden sie das merken. Aber was wollen sie machen? Auch ein Oberarzt bekommt nicht alles mit, was in einer Klinik passiert. Und ist es nicht logisch, daß die Assistenten vor mir den Mund halten?«
«Und wenn sie dich provozieren? Was, wenn eine OP-Schwester etwas Verfängliches sagt, du tust so, als hättest du es nicht gehört, aber diese OP-Schwester gehört zu denen, und beim nächsten Treffen sprechen sie dich auf deine ›Unterschlagung‹ an?«»Das wäre doch unklug, meinst du nicht? Ich wüßte doch dann, daß diese Schwester dazugehört.«
«Und wenn sie dich nicht darauf ansprechen? Sondern stillschweigend ihre Schlüsse ziehen … und dir dann irgendwann die Rechnung präsentieren — «
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