«Hab’ ein paar Fälle, die euch interessieren werden. Schlafen können wir immer noch.«
«Ihr Wort im Ohr des Nachtdienstgotts«, sagte Wolfgang, ein in dreißig Jahren Dienst ergrauter Pfleger.»Wie heißt die erste Regel, wenn’s dunkel wird? Schlaf, soviel du kriegen kannst — und trau keiner ruhigen Minute! Das ist die Ruhe vor dem Sturm!«Die drei Ärzte gingen schweigend nebeneinander her, gedankenversunken — was gab es auch zu besprechen; sie kannten einander seit langem, Dienst war Dienst; es war nicht üblich, im Gespräch — außer, wenn man, wie Richard und Weniger, befreundet war — eine gewisse Grenze zu überschreiten. Privates blieb ausgespart, nicht aus Desinteresse, sondern aus Gründen eines Taktgefühls, das sich als Sympathie äußerte und das nach einem ungeschriebenen Kodex durch ein allzu vertrauliches Gespräch zwischen Kollegen verletzt worden wäre. Man kannte den andern, man wußte, wer man war (oder zu sein schien), nickte schweigend, das war alles, und es genügte.
Sie hörten eilige Schritte hinter sich, Pfleger Wolfgang winkte Prokosch zu.
«Wo?«fragte der.
«Station 9 d. Ihr Vordergrunddienst hat in der Hautklinik zu tun. Der Gott des Nachtdiensts liebt den Schlaf nicht.«
«Man soll eben nicht wider den Stachel löcken. «Prokosch zuckte resigniert die Achseln.»Ich glaube, wir sehen uns heute noch. Na dann.«
Ein Krankenwagen näherte sich von der Akademiepforte her, aber ohne Blaulicht; sie beobachteten, wo er hinfuhr; er schwenkte hinter dem Parkplatz nach rechts, in Richtung Stomatologische Klinik.
«Nichts für uns«, sagte Weniger. Sie gingen langsam die Akademiestraße zurück.
«Manfred, darf ich dich was fragen?«
«Nur zu.«
«Hast du manchmal daran gedacht, wegzugehen?«
Weniger warf einen raschen Blick auf Richard, musterte die Umgebung, sie wechselten auf die Straßenmitte.
«Ich denke, das haben wir alle schon. — Auf dem letzten Gynäkologenkongreß ist mir eine Stelle angeboten worden.«
«Das meine ich nicht.«
«— Es sind keine guten Gedanken.«
«Aber man hat sie.«
«Jeder Mensch ist anders. Ich glaube, so kann man nicht leben.«
«Hast du im Studium daran gedacht, wie es ist, Vater zu sein, Kinder mit einer Frau zu haben, sie zu erziehen — «
«Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube nicht.«
«Eine in allen lieben — «
«Das weißt du noch. «Weniger starrte ins Dunkel.
«Und — «Richard brach ab. Eine Frau näherte sich; er erkannte schon von weitem, daß es Josta war. Sein erster Impuls war, in einen der Seitenwege abzubiegen, aber sie sah ihn an, und auch Weniger hatte sie jetzt gesehen:»Frau Fischer, Sie sind so spät noch da? Gibt’s was Besonderes im Rektorat — von dem wir wissen müßten?«
«Nein«, sagte sie knapp, ohne ihn beim Namen zu nennen oder zu begrüßen.»Nur einfach viel Arbeit. Aber nichts Besonderes. Baumaßnahmen und Beantragungen, Herr Dozent.«
«Wie geht’s Ihrer Tochter?«
«Oh, sie ist jetzt in der Mittelgruppe im Kindergarten. Sie zeichnet sehr gern. Ich glaube, sie müßte mal zum Kinderarzt, sie klagt über Ohrenweh.«
«Bei wem sind Sie denn?«
Sie nannte einen Namen. Sie vermied es, Richard anzusehen.»Sind Sie zufrieden?«
«Naja, es ist eine Poliklinik, man hat sehr lange Wartezeiten, und ich möchte die Sache nicht verschleppen — «
«Ich werde mal mit Professor Rykenthal sprechen, wenn Sie einverstanden sind. Rufen Sie mich doch morgen mal an.«
«Das werde ich tun. Danke, Herr Dozent. — Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Ruhigen Dienst wünsche ich, auf Wiedersehen.«
«Hübsche Frau«, sagte Weniger, als sie gegangen war.»Zwanzig Jahre jünger müßte man sein — und«, er fuhr sich über die Glatze,»nicht soviele Haare haben wie ein Affe. Mein Gott, ich seh’ ihre Kleine noch, frisch abgenabelt und eingewickelt, und ihr Gesicht, als die Hebamme ihr das Baby gab. Das ist immer der schönste Moment. «Weniger betrachtete seine Hände.»Da weiß man, wofür man lebt und wofür diese Pfoten da sind. Das geht dir sicher ähnlich.«
«War’s eine schwere Geburt?«
«Ja, ziemlich. Aber sie hat keinen Mucks gesagt. Das erlebt man auch nicht mehr oft. Früher und auf dem Land, ja.«
«Wir sind unterbrochen worden.«
«Du willst also bei diesem Thema bleiben. — Wir müßten uns ein andermal darüber unterhalten, nicht im Dienst, wo uns jeden Augenblick jemand rufen kann und Dinge stehenbleiben könnten, die man besser geklärt hätte — «
«Einverstanden«, sagte Richard nach einem vorsichtigen Blick auf Weniger.
«Nein, nein, schon gut, noch ruft uns ja niemand«, erwiderte Weniger mit leichtem Lachen,»und wir kennen uns doch lange genug, um das gesprochene Wort und die Situation, in der es gesprochen wird, gegeneinander abwägen zu können.«
«Da hast du natürlich recht.«
«Das will ich meinen!«rief Weniger fröhlich.»Aber zurück zu dem, was du sagtest … Man kann daran denken, aber es ist Theorie. Gedanken sind ohne Konsequenzen; man kann damit spielen wie Kinder mit Klötzchen, und wenn man mit diesen Klötzchen ein Haus baut, das einem nicht gefällt, so verändert man es eben … Sag mal, frierst du gar nicht? Ich kann dir meinen Mantel borgen.«
«Nein, ich friere nicht … Es ist doch ziemlich warm.«
«Acht Grad habe ich vorhin am Thermometer gelesen. — Man kann das Haus nach Belieben verändern, und ohne Folgen.«
«Das ist im wirklichen Leben nicht möglich.«
«Es ist vielleicht möglich, Richard, aber manche Menschen haben das Problem, daß sie mit Häusern, die sie haben, nie zufrieden sind, sie müssen immer aufbauen und wieder verwerfen, und das tun sie ihr ganzes Leben und haben nie ein fertiges Haus, während ihr Nachbar, auf dessen Haus sie ohne Achtung geblickt haben, weil es windschief und vielleicht auch nicht sehr originell ist, weil es aus billigen Materialien besteht, eben doch ein fertiges Haus bewohnt hat — «
«Schöne Umschreibung für einen Verzicht.«
«Nein, das würde ich nicht sagen. Er hat sich entschieden. Hat beschlossen, das Beste aus dem zu machen, was er bekommen hat — und nicht seine Zeit an die Suche nach Dingen zu verschwenden, die er nicht bekommen kann.«
«Woher weiß er, daß er sie nicht bekommen kann?«
«Indem er sich nüchtern einschätzt.«
«Wie erziehst du deine Kinder?«
Weniger antwortete nicht sofort.»Ich sage ihnen, daß sie frei sind.«
«Frei? In diesem Land?«
«Was das betrifft, so ist man nirgendwo frei, glaube ich. — Ich meine: frei, klug zu werden über sich selbst — und ihr Haus zu bauen. Übrigens siehst du schlecht aus.«
«Ja, mag sein. Ich schlafe nicht besonders gut.«
«Das geht uns allen so«, sagte Weniger lächelnd.
«— Wenn du etwas erfahren hast, das dich wütend macht, sagen wir: das den Eindruck erwecken könnte, du seist ziemlich hilflos — «
«Erweckt bei dir etwas diesen Eindruck?«
«Nein, ich meine nur … Ein Beispiel, das ist ein reines Beispiel, um die Überlegung im richtigen Rahmen zu halten. Also, wenn du so etwas erfahren hättest, ist es dann besser, sofort loszuschlagen — oder erst einmal abzuwarten?«
«Das kommt sehr auf die Art der Erfahrung an, die mir diesen Eindruck erweckt. Und was du unter ›losschlagen‹ verstehst. Hierzulande dürften die Möglichkeiten zum ›losschlagen‹ begrenzt sein. Wenn man nicht zu denen gehört.«
«Warte, ich habe mich schlecht ausgedrückt, ›losschlagen‹, das klingt wirklich etwas vermessen — «
«Vielleicht doch ein andermal«, sagte Weniger ruhig.
Philipp Londoner hauste in einer Siebzigquadratmeter-Wohnung in einem der Arbeiterviertel von Leipzig. Das Haus grenzte an einen Kanal, dessen Wasser vom Absud einer Baumwollspinnerei gallertig geworden war; tote Fische trieben darin und zersetzten sich langsam, das weiße Fleisch löste sich in Flocken von den Gräten, einzelne Flossen, blind gewordene Augen wurden von den Strömungen ans Ufer gedrückt und dünten im grauen Schaum, über den sich kahle Ulmenzweige reckten, bevölkert von Tausenden von Krähen, die dort ihr reichliches Auskommen fanden. Die Bewohner des Viertels hatten einen Spitznamen für die Fabrik:»Flocke«; im Umkreis von mehreren Kilometern lagen Baumwollflocken — die Leipziger sagten» Mutzeln«— auf den Straßen, wurden festgetreten und bildeten einen schleimig verwesenden Schorf, in dem sich der Geruch aller Hunde von Leipzig zu verdichten schien. Treibende Baumwolle blieb im Gestrüpp hängen, verstopfte sommers die Schornsteine, wanderte mit den von der Abluft aufgewärmten Winden, wirbelte in Schleiern über die Dächer, senkte sich in Pfützen und Straßenbahngleise, so daß man, wenn die Bahn ins Viertel einfuhr, dies mit geschlossenen Augen erkennen konnte: plötzlich dämpften sich die Geräusche, und die Gespräche in der Bahn, die ein ununterscheidbares Gemurmel gewesen waren, verstummten.
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