Es war das Jahr der Apokalypse. Fast alle ausgestellten Bücher beschäftigten sich mit Weltuntergängen. Der Wald starb. Raketen wurden stationiert, Pershing und Cruise Missiles, es gab den SALT II–Vertrag und ein Programm zum Krieg der Sterne; aller Sprengstoff der Welt reichte aus, die Erde mehrfach explodieren zu lassen. Die Stimmung auf der Messe war gedrückt, Lektoren, Verleger, Autoren: alle waren finster entschlossen, unterzugehen. Jemand hob sein Glas und wünschte sich den Untergang wenigstens in der Abendröte vor seinem Toskana-Häuschen: Man muß sich dann nicht so fürchten!
Kamen die Lektoren aus den Westverlagen an den Stand des Hermes-Verlags, winkte Schiffner, lächelte unternehmend und tuschelte, die verängstigte Judith Schevola, die er zur Messe beordert hatte, nach vorn schiebend:»Eine unserer größten Begabungen! Von der werden wir noch viel hören!«Aber die Lektoren senkten nur traurig die Köpfe und nippten resigniert am Rotwein. Schiffner klopfte Schevola auf die Schulter und meinte, das habe nichts zu bedeuten. Die Apokalypse aber machte hungrig, die Kneipen und Restaurants waren überfüllt, in» Auerbachs Keller«,»Zills Tunnel«, der HO-Gaststätte» Paulaner «kein Platz mehr frei. Erst im unweit des Messehauses gelegenen Restaurant» Jägerschänke «gelang es den Mitarbeitern eines bedeutenden Frankfurter Verlages, einen Ober mit frei konvertierbaren Argumenten zu überzeugen, den Stammtisch mit» Reserviert«-Schild, in der Ecke bei einem Ofen unter ausgestopftem Auerhahn, freizugeben. Der Hermes-Verlag war eingeladen: Schiffner und der Frankfurter Verleger, Munderloh, waren befreundet; sie hatten über Hermann Hesse promoviert, und Schiffner hatte in einem Brief an Munderloh, in dem er ihn hauptsächlich auf Druckfehler und zwei Stellen mit mangelhafter Sprache in einem Buch eines fünf Jahre zurückliegenden Herbstprogramms hinwies, geschrieben, sein gesamter Frankfurter Verlag sei nichts anderes als das entfaltete» Glasperlenspiel«. Die beiden Männer eröffneten den Messe-Umtrunk.
Schevola rauchte nervös und war dankbar, daß Meno ihr einen Platz neben sich anbot. Der Dichter Eschschloraque betrat das Lokal, Meno hatte Gelegenheit, ihn zu beobachten. Eine gewisse unproletarische Grandezza lag in seiner Erscheinung. Trotz der kühlen Witterung, die zu dieser Jahreszeit noch in Leipzig herrschte, und trotz der von Abgasen und Braunkohlepartikeln verschmutzten Luft, die die Ursache dafür war, daß man in Leipzig nur selten Menschen in heller Kleidung sah, trug Eschschloraque einen leichten cremefarbenen Anzug, dessen Schnitt und Stoffqualität das Maßatelier verrieten. Über dem Arm hatte er einen Trenchcoat, um den Hals einen roten, in mehreren Lagen geschlungenen Kaschmirschal, dessen mit langen Fransen versehene, elegant herabhängende Enden die schlanke Gestalt des Dichters vorteilhaft und zugleich dezent umhüllten. Umhüllung — dieses Wort schien zuzutreffen. Nein, die Schal-Enden» umspielten «sie nicht, Eschschloraques schlanke Linie, schon gar nicht» betonten «sie sie. Er nahm seinen Hut ab, blieb im Halblicht des großen Leuchters am Eingang der» Jägerschänke «stehen, aufrecht, stolz, unzugehörig zur lärmenden, biertrinkenden, besteckklappernden Wirtshaus-Menge. Er musterte Tisch für Tisch, ruhig, aber mit der rasch registrierenden Wachheit eines geübten Beobachters. Noch immer hielt er den Hut in der Hand, der rechte Arm war angewinkelt, eine Geste, wie sie vornehmen Bittstellern oder Schauspielern zu eigen ist, die alt geworden sind und wissen, was sie geleistet haben, aber nicht, ob es der, der ihnen gegenübersteht, auch weiß, und nun die Tatsache, daß sie um eine Rolle bitten müssen, mit dieser Geste höflicher Nonchalance weniger vor ihrem Gegenüber als vor sich selbst zu verbergen versuchen und, da der Kommentator in ihnen sich nicht bestechen läßt, sondern ironische Bemerkungen macht, wenigstens diese Geste vollendet ausführen: nutzlos, aber vollendet — das war man sich schuldig. Eschschloraque trat ein wenig zurück, vielleicht empfand er den Punkt, an dem er stand, als zu hell: Es konnte eine Indiskretion sein, so auf sich aufmerksam zu machen, eine Platitüde war es mindestens; ein Gentleman stört nicht, und es wäre eine Störung gewesen, hätten etwa Schiffner oder Redlich aufspringen müssen, um ihn, den Verfasser berühmter Dramen und Gedichte im klassischen Stil (was heißt hier» klassischer «Stil, sann Meno, einen anderen gibt es für ihn nicht, man müßte sagen: Verfasser von Dramen, die Stil haben), wortreich und mit aufmerksamkeitsbannenden Zeremonien zu begrüßen. Gleichzeitig konnte Eschschloraque im Dämmer besser sehen, wurde nicht geblendet. Langsam ließ er den Hut sinken. Es war ein brauner Borsalino, ein teures, kaum in hiesigen Geschäften erhältliches Modell; Meno erinnerte sich, ein ähnliches einmal beim Hutmacher Lamprecht gesehen zu haben, es hatte sechshundert Mark gekostet und war für Arbogast bestimmt gewesen. Ein Kellner rempelte Eschschloraque an, und so, wie er in diesem Moment dastand: den Trenchcoat über dem linken Arm, den Hut in der rechten Hand, mit für Sekunden verunsicherten Augen, spürte Meno eine jähe Aufwallung von Mitleid mit diesem Mann, den eine gekannte, aber gut überspielte Aura von Einsamkeit umgab. Um die Bewegung zu begründen (daß es ein» Begründen «war, schien Meno unzweifelhaft), klopfte er mit der linken Hand den Hut leicht ab, nahm in Kauf, daß der Trenchcoat übermäßig durch die Luft wedelte (diese mißglückte Geste würde durch ihr Mißglücktsein um so mehr ablenken), schüttelte den Hut, als lägen Schneeflocken oder Regentropfen auf der Krempe, doch da es weder geschneit noch geregnet hatte und ein potentieller Beobachter das wissen konnte, korrigierte er die Verlegenheitsgeste wiederum, indem er mit den Fingern über das Hutband rieb, als hätte er nun Staub darauf entdeckt. In diesem Moment schien er zu spüren, daß er beobachtet wurde, nicht gesehen, sondern beobachtet, von jemandem, der ihn kannte, denn er sah plötzlich zu Menos Tisch hinüber und, indem er durchs Licht trat, verbarg er sich nicht: sich zu verbergen wäre die Reaktion eines unerfahrenen Menschen gewesen, der dadurch seine Ahnung verrät; Eschschloraque trat durchs Licht, gab sich zu erkennen und ließ so die Beobachtung keine Kunst mehr sein. Er ging zur Garderobe und hängte den Hut neben Menos, wobei er stutzte, sich rasch umsah, den fremden Hut in die Hand nahm, die Banderole der Innenseite las, wo der Name eingeschrieben stand. Jäh sah Eschschloraque auf, musterte Meno kühl, hängte den Hut langsam wieder an den Haken. Es war kein Platz am Tisch mehr frei, und Meno wartete gespannt, wie Eschschloraque dieses Problem lösen würde. Er schlenderte näher, die Unsicherheit durch übertriebene Drehungen des Körpers ausgleichend, starrte auf einen imaginären Punkt — als wollte er nicht, daß ein anderer Blick seinen träfe und Verlegenheit, Scham, vielleicht sogar Verdruß über die Unaufmerksamkeit entstehen konnte, den Dichter Eschschloraque nicht bevorzugt behandelt zu haben. Die Mitarbeiter des bedeutenden Frankfurter Verlags saßen mit dem Rücken zu ihm, Munderloh hielt ein Glas Raki in der Faust, ließ es auf den Tisch sausen, als er mit Schiffner stritt, leckte die Schnapstropfen vom Handgelenk. Schevola und Josef Redlich hatten Eschschloraque bemerkt, Redlich stieß Schiffner an, der winkte. Eschschloraque stand jetzt am Tisch, in einer Art Habtacht-Haltung, niemand stand auf. Die Gespräche verebbten.
«Wäre Zusammenrücken möglich?«fragte Eschschloraque, dabei lächelte er, es gelang ihm gut, dieses Lächeln, fand Meno. Es war ein wenig skeptisch, Bescheidenheit und Würde mischten sich darin, es war ohne verletzte Eitelkeit und ohne Herablassung. Er bekam einen Platz auf der Sitzbank, übereck neben Meno und Schevola, unter der geschnitzten Figur eines Nachtwächters mit Schweiflaterne, Waldhorn und wurmstichigen Augen. Schevola beugte sich zu Meno, flüsterte:»Haben Sie den Artikel gelesen, den er über Ihr Buch veröffentlicht hat?«
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