«Wenn, wenn, wenn! Siehst du eine andere Möglichkeit?«
«Flucht.«
«Anne, sei doch nicht albern! Das ist doch nicht dein Ernst! Schon der Versuch ist strafbar, die hätten uns im Handumdrehen am Schlaffittchen, und dann landen wir hinter Gittern … Flucht! Wie stellst du dir das vor? Mit den Jungs? Oder sollen sie etwa hierbleiben? Sollen wir einen Tunnel graben, über die Ostsee schwimmen — «
«Dein Kommilitone hat es geschafft.«
«Der war Leistungsschwimmer, Anne! Hat allein gelebt und genau gewußt, worauf er sich einläßt! Wenn er gefaßt worden wäre, hätte er nur für sich einzustehen gehabt. Weißt du, daß sie die Karten fälschen? Hat mir neulich ein Patient verraten. Nach unseren Karten denkst du, du bist in der Bundesrepublik — in Wahrheit aber bist du immer noch in der DDR. Flüsse verlaufen nicht dort, wo sie den Karten nach verlaufen müßten, im Grenzgebiet sind Wege nicht eingezeichnet — «
«Jugoslawien — «
«Anne.«
Sie lachte schrill auf. Richard sah sie an.»Laß uns nach Hause gehen.«
Sie lagen wach nebeneinander, in ihren Betten, die sie am Beginn ihrer Ehe zusammengestellt hatten; einer lauschte den Atemzügen des anderen.
Noch immer faszinierten ihn die Geräusche im Haus; manchmal öffnete er die Tür seines Zimmers, um zuzuhören, der Spalt erschien ihm dann wie der Schallzylinder eines Hörrohrs, wie die mit Schleimhaut und Flimmerhärchen ausgekleidete Verbindung zwischen Mittelohr und Rachenraum (ihm fiel ein, daß er Lucie vom Kinderarzt untersuchen lassen mußte, sie schluckte häufig und klagte dabei über Schmerzen, verschleppte Mittelohrentzündungen waren gefährlich); er schloß, wenn er die Tür geöffnet hatte, die Augen und lauschte, denn man konnte an den Geräuschen nicht nur erkennen, was in der Klinik vor sich ging, sondern auch, in welcher Stimmung das geschah, wie die Atmosphäre war und wie sie sich, als wäre die Klinik ein kollektiver Organismus ähnlich einem Bienenschwarm, bei der geringsten Störung, bei der kleinsten Irritation veränderte. Jetzt war die Stunde, in der die Klinik sich auf den Abend vorbereitete; eine Zwischenzeit: die Arbeit des Tages war zum größten Teil verrichtet, die Frischoperierten lagen wieder in ihren Betten, waren versorgt und vom Nachmittagsdurchgang begutachtet worden, die Schwestern der Frühschicht und die Angehörigen der Patienten, die zur Besuchszeit kamen, waren gegangen; auch Vorlesungen und Seminare gab es zu dieser Stunde nicht mehr. Noch schepperten sie nicht durch die weitläufigen, mit PVC belegten Gänge der Klinik, die solid gebauten, mit Thermophoren beladenen Quaderwagen, die ihn an Schiffskoffer erinnerten, die die Schwestern von Zimmer zu Zimmer schoben, um den Patienten das Essen auszuteilen. Noch war das Kastagnettenklacken von Oberschwester Henrikes Holzpantinen nicht zu hören, die abends auf Inspektionsrunde durch ihr Reich ging. Sie lebte mit ihrer pflegebedürftigen Mutter und ihrem Sohn, der zwei Lehren abgebrochen hatte, allein in einer engen Wohnung auf der Augsburger Straße, keine fünfhundert Meter von der Akademie entfernt, eine pummelige, mütterlich wirkende Frau, die sich wie ein Kind über die Hufelandmedaille in Silber gefreut hatte, die ihr zum» Tag des Gesundheitswesens «verliehen worden war. Telefone klingelten, im Bauch der Klinik rumpelten Wäschewagen; die Türen der Dienstzimmer nebenan schlugen auf und zu. Die meisten Kollegen waren noch da, sie hatten die Stationsarbeit erledigt und würden jetzt in die Bibliothek, die Laboratorien gehen oder Gutachten, OP-Berichte schreiben. Richard war auf sein Zimmer gegangen, um sich ein wenig auszuruhen; der Tag war anstrengend gewesen. Von sieben Uhr dreißig bis siebzehn Uhr hatte er im OP gestanden und nicht mehr zu sich genommen als drei Kaffee und die belegten Brote, die Anne ihm morgens zurechtmachte. Er hatte Dienst, aber man würde ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit rufen; Dreyssiger und Wernstein waren erfahrene Fachärzte, er konnte sich auf sie verlassen.
Er legte sich auf die Pritsche, wälzte sich hin und her. Dann lag er auf dem Rücken und starrte nach oben. Krankenwagensirenen heulten heran, er hörte, wie ein Wagen der Schnellen Medizinischen Hilfe die Klinikrampe hinauflärmte. Rufe, eilige Schritte, das Gepolter der Krankentragen. Sie würden ihn anrufen, wenn es etwas gäbe. Er fand keine Ruhe, stand auf. Schwindel und Müdigkeit machten ihn benommen, er trat ans Fenster, um frische Luft zu schnappen. Der Schwindel verflog, aber die dumpfe Mattigkeit blieb. Er griff nach dem Fensterverschluß und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Dann versuchte er es mit Kniebeugen, vielleicht lag die Müdigkeit an mangelnder Bewegung oder an der ungesunden Haltung, in der man oft zu operieren gezwungen war, er war in letzter Zeit oft rasch erschöpft. Er setzte sich an den Schreibtisch, auf dem einige Fachzeitschriften aufgeschlagen lagen. Ein Artikel über eine neuartige Operationsmethode beim Morbus Dupuytren, einer tückischen Erkrankung der Beugesehnen der Hand, interessierte ihn; er hatte sich vorgenommen, ihn gründlich zu studieren, denn die Häufigkeit dieser Erkrankung schien zuzunehmen. In seiner Ambulanz hatte er allein in den vergangenen drei Monaten vierzehn Fälle gehabt. Die Erkrankung endete mit fast völliger Verkrüppelung der Hand, die Beugesehnen bekamen Knoten und bindegewebige Perlen, zogen sich zusammen; die Hand ließ sich im Endstadium der Krankheit nicht mehr öffnen. Wer waren die Autoren der Arbeit … Natürlich, die Hamburger Gruppe unter Buck-Gramko, dem Handchirurgen-Papst. Er hätte darauf wetten können. Es war seit Januar schon die fünfte Veröffentlichung aus dieser Arbeitsgruppe, die er zu sehen bekam, und das Jahr war noch jung. Und sie, was machten sie, hier in diesem Land? Meist beteten sie nach, was die drüben ihnen vorbeteten, sie werteten die Entwicklungen aus, aber bestimmten sie nicht selbst, sie dachten darüber nach, wie die fremden Leistungen kreativ auf die hiesigen Verhältnisse zu übertragen seien, das hieß: sie improvisierten … Er las die wenigen Sätze, die die Studie zusammenfaßten. Danach wußte er, daß sie keines der Ergebnisse anwenden konnten, weil sie die technischen Voraussetzungen dazu nicht besaßen. Das alte Lied. Und da wunderte man sich, daß die Menschen davonliefen … Warum war er nicht davongelaufen, solange noch Zeit dazu gewesen war? Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, schob den Artikel beiseite. Wie müde er war, selbst für sein Steckenpferd, die Handchirurgie, hatte er jetzt keinen Sinn. Er hatte überhaupt wenig Sinn für irgend etwas seit der Aussprache mit Anne … Aber er durfte sich nicht hängenlassen, das hatte er immer verabscheut. Bestünde die Welt nur aus Menschen, die sich hängenließen, sobald sie in Schwierigkeiten gerieten, man würde immer noch in Höhlen hausen und vom Jagen und Sammeln leben … Ein, zwei Kaffee und ein tüchtiges Abendbrot, das würde genügen, um ihn wieder munter zu machen, beschloß er. Als er das Fenster schließen wollte, sah er Weniger von der Gynäkologischen Klinik kommen.
«Richard!«Weniger winkte.»Wir haben zusammen Hintergrund-Dienst, schön! Vielleicht können wir ein bißchen schwatzen!«
«Fährst du nicht nach Hause?«
«Dann wäre die Pflichtassistentin allein. Wir haben einige schwierige Geburten anstehen. Wenn’s losgeht, würde sie mich sowieso holen. Also kann ich gleich hierbleiben.«
«Kommst du ’rüber, was essen?«Das Abendbrot, das die Schwestern der Chirurgischen Klinik für den Dienst zubereiteten, genoß in der Akademie einen guten Ruf.
«Alter Junge, genau das hatte ich vor!«
«Ich will vorher noch mal über die Stationen gehen — «
«Bin dabei, wenn du nichts dagegen hast.«
Sie sagten in der Notaufnahme Bescheid, daß sie noch einen Rundgang machen wollten. Diese Rundgänge mit Kollegen aus anderen Kliniken waren Brauch in der Akademie, denn so erfuhr man rasch und aus kompetentem Mund, wie in einer Privatvorlesung, die wichtigsten Neuerungen und Probleme des anderen Fachgebiets. Für diese Orientierung über den Stand der Nachbarfächer blieb im Klinikalltag meist keine Zeit.
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