«Das ist es nicht. Ich kenne dich. Du bist anders, wenn es diese Dinge sind. «Sie trat auf ihn zu. Er stand abgewandt, über die Werkbank gebeugt, schloß die Augen, als sie nach seiner Hand griff.
«Verschweigst du mir etwas?«
Sie hatten es sich zur Regel gemacht, ernsthafte Probleme nicht in den eigenen vier Wänden, sondern auf einem Spaziergang zu besprechen. Diese Spaziergänge waren ein im Viertel allgemein üblicher Brauch. Man sah oft Ehepaare schweigend und mit gesenkten Köpfen gehen oder in hastig gestikulierendem Gespräch — man konnte nur vermuten, daß es im Flüsterton geführt wurde, da es sofort abbrach, sobald Passanten in Hörweite kamen.
«Ist es eine andere Frau?«
«Nein. Wie kommst du darauf? Nein.«
«Also ist es keine andere Frau?«
«Nein. Nein! Ich habe es dir doch gerade gesagt!«
«Man bekommt einiges zu hören. Mir werden Gerüchte zugetragen.«
«Gerüchte, Gerüchte! Sind dir diese Gerüchte auch nur einen roten Heller wert? Das sind doch Intrigen — «
«Eine Kollegin hat eine Schwester, die in der Akademie arbeitet, eine andere war kürzlich Patientin in eurer Orthopädie — «
«Dummes Geschwätz!«
«Also keine andere Frau.«
«Wie oft soll ich es noch sagen: Nein!«
Diese Problem-Spaziergänge schienen sich in letzter Zeit zu häufen. Es gab Tage, da es ihm so vorkam, als hätten außer den Kindern sämtliche Bewohner des Viertels ihre Wohnungen verlassen und streiften murmelnd durch die Straßen, so daß unablässiges Grüßen, Huttippen, Winken die Flüstergespräche unterbrach. Wie grotesk das war! Er mußte lachen — brach ab. Daß er noch fähig war zu lachen! Anne sah ihn verstört an. Sie hatte sich dick eingemummt und klammerte die Hände an den Kragen ihres Mantels.
«Du glaubst wohl diesen Tratschereien! Die versuchen mir was anzuhängen, vielleicht aus Neid — «
«Die? Wer ist ›die‹?«Anne blieb stehen.
«Nicht deine Kolleginnen. «Richard lehnte sich gegen einen Zaun.»Sie haben den alten Vorfall ausgegraben. Aus der Studienzeit. Damals in Leipzig.«
«O mein Gott. «Sie schlug die Hände vors Gesicht, mußte sich neben ihn an den Zaun lehnen.
Er begann von dem Gespräch zu erzählen, zuerst stockend, abgerissen, unzusammenhängend, dann immer drängender.
«Aber was für einen Grund haben sie … Nach so vielen Jahren …«
«Ich weiß es nicht.«
Manchmal sah man mehrere Paare an einem Zaun lehnen, manchmal kam Arbogast vorbei, der einen sonderbaren Sinn für Komik hatte, mit seinem Stock schweigende Reverenz erwies und, wenn es ein Zaun in der Holländischen Leite war, Stühle aus dem Institut ins Freie bringen ließ.
«Diese alte Geschichte … hast du mir damals alles erzählt?«
«Ja — habe ich!«
«Und Weniger … weiß er es?«
«Nein. Nein, das kann er nicht wissen.«
«Er ist dein Freund … Wie du mit ihm umgehst, ihm auf die Schulter klopfst, manchmal sehe ich dir zu und — «
«Hör auf damit!«
«Und habe Angst! Man sieht dir nichts an, nichts! Vielleicht belügst du mich, vielleicht hast du mich all die Jahre belogen, so wie du Weniger belogen hast — «
«Anne! Kannst du das nicht verstehen? Kannst du das wirklich nicht verstehen? Ich … war anders damals, die fünfziger Jahre in Leipzig, du hast diese Stimmung nicht miterleben müssen, und ich war auch ehrlich überzeugt — «
«So ehrlich, daß du einen Freund ans Messer geliefert hast! Mein Gott, ich lebe mit einem — «
«Anne!«Richard war kreideweiß geworden. Er faßte sie an den Schultern, rüttelte sie.»Wir haben das doch alles schon besprochen, bis zum Erbrechen, bis ins kleinste besprochen, wirf mir das doch jetzt nicht wieder vor! Das wollen die doch! Die wollen, daß es uns auseinandertreibt, die wollen uns damit zerstören, weil … sie die Liebe fürchten, ja, das ist es. Weil sie den Zusammenhalt fürchten und …«
Anne lachte schrill auf.»Die Liebe fürchten … Was redest du da für Unsinn! Du müßtest dich selber hören, wie … lächerlich und sentimental du klingst! Das paßt überhaupt nicht zu dir, und ich will deine pseudophilosophischen Analysen nicht mehr hören … Mein Gott! Richard«, sie hob die Hände, schüttelte sie gegen ihn, brach in Tränen aus.
Er umarmte sie. So standen sie eine Weile. Richard starrte auf die Straße, Schatten bewegten sich und kamen näher. Er schloß die Augen, riß sie wieder auf, die Schatten waren verschwunden. Über die Gartenzäune quollen Baumkronen und Hecken mit ihren noch dürren und toten Ästen, ein milder Wind ging; in der nach Kohle riechenden Luft schleierte Grasgeruch. Anne weinte. Er sah das Blatt Papier mit den Zahlen vor sich, das Lucie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Sieben, die einen Hut trug, die zigarrerauchende Fünf. Er versuchte das Bild zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht, es kehrte immer wieder, die Zahlen schienen lebendig zu sein, bösartige Stehaufmännchen. Lucie, die zur Tür hereinkam, ihren Stoffbär im Arm, und über Bauchschmerzen klagte. Die lächelnden Puppen im Flur. Dann war es ihm, als ob Josta ihn ansähe. Er schüttelte den Kopf, doch auch dieses Bild verschwand nicht.»Laß uns weitergehen.«
Sie schlugen den Weg zur Turmstraße ein und gingen eine Weile schweigend. Er beobachtete Anne. Sie weinte nicht mehr, starrte ins Leere. Wieder fiel ihm einer dieser Abende ein, an dem das ganze Viertel unterwegs gewesen zu sein schien. Menschen, die einander umarmten, hatten schweigend und reglos auf den Straßen gestanden. Die Laternen warfen fahles Licht, das auf einmal verlosch, auch in den Häusern ringsum wurde es dunkel. Stromausfall. Dann war etwas Groteskes geschehen: Jule Heckmann, im Viertel allgemein» Pferde-Jule «genannt, war an der Seite der Zahnärztin Knabe in Gelächter ausgebrochen, ein männlich rauhes, aufschwellendes, dabei kreischendes und stechendes Lachen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte; es hatte nach und nach alle Spaziergänger, auch die einander Umarmenden, angesteckt und ein sonderbar befreiend wirkendes, vitales, bald schluchzendes, bald brüllendes, sich in die Straßentiefen fortpflanzendes Gelächter gezündet; in den Häusern ringsum hörte man die Fenster aufgehen, plötzlich schrie jemand:»Bürokratismus!«, ein anderer schrie zurück:»Individualismus!«, wieder ein anderer:»Sozialismus!«,»Ich habe Angst!«rief eine Frau,»Ich ooch!«eine andere, und immer noch das Gelächter auf der ganzen Straße, unterbrochen von» Psst!«- und» Sei doch still!«-Rufen;»Bald gibt’s nischt mehr zu frressen!«rollte jemand mit verstellter Stimme,»In Wismar gibt’s kein Fleisch mehr!«kiekste es aus der Dunkelheit;»Ob’s Krieg gibt in Polen?«—»Beschrein Sie’s nicht, Gott im Himmel!«—»Ob die auch Angst haben?«brüllte eine Frau, in der Richard Zahnärztin Knabe zu erkennen meinte. — »Aber sicher! Vor uns!«und wieder erschütterte das Gelächter die Straße, auch aus den Häusern kam es,»Marxis-muhs!«—»Stalinis-muhs!«—»Mensch: Allgemeinismus!«Hundegebell war zu hören, sofort verstummte das Lachen, und die Menschen zerstreuten sich eilig. Jemand kam auf Richard zu, blieb nah vor ihm stehen, musterte ihn scharf, zögerte; es war Malthakus, er tippte sich mit der Krücke seines Regenschirms an den Hut, flüsterte mit seinem feinen Lächeln:»Na, Herr Nachbar, und was isses bei Ihnen?«und verschwand rasch in der Dunkelheit.
Richard zog den Mantel enger zusammen, die Erinnerung an dieses Vorkommnis hatte ihn in Unruhe versetzt.
«Sie versuchen also, uns zu erpressen«, sagte Anne; dieses» uns «registrierte er dankbar; aber sie suchte nicht seine Hand.»Wir müssen überlegen, was wir tun können. «Ihre Stimme klang jetzt wieder fest. Das gab auch ihm die nüchterne Überlegung zurück.»Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich spiele mit — oder ich spiele nicht mit.«
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