«Und Sie?«
«Wir führen eine moderne Ehe, Herr Hoffmann. Aufgeklärt und großzügig. Wir sprechen uns ab, und keineswegs will ich Ihnen hier als die Leidtragende vorkommen. Übrigens ist es mir lieber, wenn ich die Frauen kenne; ich kann dann besser einschätzen, ob sie ihm guttun. Ihre Frau ist sehr nett, ein ganz angenehmer, liebenswerter Mensch.«
«Was Sie nicht sagen. «Richard versuchte vergeblich, auf einem der Barhocker um die zentral stehende Anrichte Platz zu nehmen,»Wo haben Sie diese riesige Dunstabzugshaube her?«
«Kein Problem für meinen Mann. Er wollte eigentlich eine neue kaufen und diese Ihrer Frau geben, die sie auch bewundert hat, aber Ihre Küche ist zu klein. — Nebenbei, ich freue mich, Sie zu sehen, Herr Hoffmann. Mein Mann spricht immer sehr achtungsvoll von Ihnen. Wollen wir nicht du zueinander sagen?«Sie wischte sich die Hände an einem mit Windmühlen bedruckten Geschirrtuch ab.»Evelyn.«
«Ach, kommen Sie mir doch nicht damit. «Richard verließ das Haus. Er irrte durch die Straßen, geriet in die Ulmenleite. Die Kirche war noch offen. Pfarrer Magenstock übte Seilspringen. Richard sah eine Weile zu, Magenstock drehte sich langsam, schien ihn nicht zu bemerken, hüpfte schnell und flach, das Seil in geschmeidig pfeifender Bewegung, mit geschlossenen Augen auf und ab. Meditativ, dachte Richard. Und obwohl das Geräusch des Seilspringens hinter ihm gar nicht darauf hinwies, entdeckte er den Opferstock neben der Tür und verspürte das Bedürfnis, etwas zu spenden; fand aber, als er seine Taschen durchsuchte, nur das Zwanzigpfennigstück für Notfälle. Er warf es ein.
«Ah, Herr Hoffmann«, Sperber geleitete Anne aus dem Haus, verbeugte sich vor ihr,»ich kann Ihnen etwas Erfreuliches mitteilen. Meine Bemühungen, Ihrem Sohn das Medizinstudium wiederzuverschaffen, werden sehr wahrscheinlich Erfolg haben.«
«Na, Bruderherz?«
«Robert.«
«Kann man in dem Kaff irgendwohin gehen? ’n Eis essen?«
«Hier gibt’s ’ne Kneipe. Wenn du ’n Bier willst. «Robert, der Bier trank, Robert, der Kleine — so war es immer gewesen, und so war es nun nicht mehr. Robert, der jetzt mit sattem Klick ein Sturmfeuerzeug aufspringen ließ und mit der Stichflamme über die Spitze einer» Cabinet «fuhr.
«Vielleicht später.«
«Daß du gekommen bist … schön.«
«Mann, das hättest du früher nie gesagt. Das muß die Fahne mit dir gemacht haben. Gar nicht schlecht.«
«Mach dicht, Ohrli.«
«Na bitte. «Robert sprach scherzend über die Armee, er war bei den Sanitätern in einer Kaserne bei Riesa eingesetzt.»Schnarch- und Duckposten. Meine Güte, das ist doch ein ziemlich lächerlicher Verein. Links um, rechts um, gammeln, warten, verblöden und verfetten. Das kann man doch nicht ernst nehmen.«
«Kommt drauf an, wo du bist.«
«Irgendwas mußt du falsch machen, daß es dich immer so erwischt.«
«Wie steht’s mit Ausgang?«
«Jede Menge«, prahlte Robert.»Und für’s Leibliche ist auch gesorgt. Hab’ ’ne Hübsche in Riesa. Und du?«
«Was sagst du zu unseren Alten?«
«Gut abgelenkt, Bruderherz. Sind schon okay, da gibt’s ganz andere. Find’ ich gut, daß sie jetzt auf Urlaub sind. Endlich mal sturmfreie Bude. Mensch, wie lange hab’ ich mir ’ne sturmfreie Bude gewünscht, und wenn man eine kriegt, dann zusammen mit ’ner Schwester, und man ist bei der Asche. Du rauchst nicht, stimmt’s?«
«Halbschwester.«
«Nimm’s nicht so schwer, Bruderherz. It happens. Lucie heißt sie. Hast du sie schon mal gesehen?«
«Nein.«
«Na, wie sollst du auch, wo du doch kaum rauskommst. Ich hab’ sie auch noch nicht gesehen. Aber neugierig bin ich auf sie. Echt. Und ehrlich gesagt: Irgendwie freu’ ich mich auch. ’n Schwesterchen hab’ ich mir nämlich schon immer gewünscht.«
66. Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage. . dahin
781 Jahre Dresden: Aufkleber mit dieser Zahl las man 1987 auf den Heckscheiben vieler Autos; oft neben dem» A«, das offiziell für» Anfänger«, inoffiziell aber für» Ausreise «stand. Die Zahl war ein Aufbegehren gegen eine andere: 750 Jahre Berlin, ein Jubiläum, das in großem Stil gefeiert werden sollte, eine Zuckung aus Lebensfreude, Stolz, den niemand mehr glaubte; eine mit allen Kräften vorgenommene Auspressung des müden, siechen Körpers der Republik, um aus den verdorbenen Säften einen Becher Schierling zu keltern, der, in die Adern der Hauptstadt geträufelt, Krankheit zum Leben, Erschöpfung in Hoffnung und Tatkraft verwandeln sollte …
Judith Schevola arbeitete inzwischen nicht mehr auf dem Tolkewitzer Friedhof, man hatte ihr eine Arbeit im VEB» Kosora «zugewiesen, wo sie als Blauzugkopiererin Broschüren an Alkoholwannen und im» Ormig«-Verfahren abzog. Wenn er konnte, fuhr Meno, auf für ihn selbst unerklärliche Weise angezogen, zu dem Betrieb, und beobachtete sie. Er erkannte sie schon von weitem an ihrer Fledermausmütze, sie kam mit anderen Arbeiterinnen zum Werktor heraus. Sie wankte, suchte Zäune an den Wegen und etwas zum Festhalten auf den Straßen, betrunken von den Alkoholdünsten, die aus den Wannen mit den zu vervielfältigenden Schriften stiegen; Passanten runzelten bei ihrem Anblick die Stirnen, dachten wohl, sie sei eine Säuferin, und als sie einmal in den Matsch fiel, an einem trüben Winterabend, half ihr niemand, bis es Meno, der schon von weitem ihre dumpfen Hilferufe gehört hatte, schließlich gelang, sie aus der Pfütze hochzurappeln. Judith erkannte ihn nicht, wehrte sich taumelig, niemand achtete auf die beiden schwermütig miteinander kämpfenden Menschen.
Meno brachte sie nach Hause. Sie lebte in der Neustadt, in einer Hinterhofwohnung, die aus anderthalb Räumen bestand, der Flur von Schrankrücken hergestellt, der halbe Raum endete an einer Mauer; sie teilte die Stuckrosette für den Kronleuchter. Das größere Zimmer querte eine Schraube, an der Zigaretten, ausgeschnittene Gedichte und Strümpfe hingen. Die Schraube hatte ein Feingewinde mit (von Judith gezählten) 5518 Gewindegängen, und hielt, durch Mauerwerk, außen mit Schellen und Hölzern als Gegenspann, die Etage zusammen.
«Was wollen Sie denn von mir«, nuschelte Judith und ließ sich aufs Bett fallen.
«Brauchen Sie etwas, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
«Mir kann keiner helfen. Ah, wie weinerlich … Haben Sie was zu trinken mitgebracht? Schönen Dank fürs Geleit, Herr Lektor, und gehab’ er sich wohl!«
Sie wurde rasch klarer, Meno wandte sich zum Gehen.
«Wenn Sie den Waschkrug füllen könnten, in der Küche ist ein Wasserhahn … Sie können auch bleiben, wenn Sie schon mal da sind … Wie Sie wollen. Ich hab’ eine Platte mit indischer Musik, geschrieben für Lebende und Tote, genau das Richtige für Sie und mich. Haben Sie Hunger?«
«Ja.«
«Das ist dumm. Hab’ bloß aus Höflichkeit gefragt. Also schlage ich vor: Wir essen zuerst nichts, und danach gehen wir tanzen.«»Ich kann nicht besonders gut tanzen. — Wie geht’s Ihnen? Arbeiten Sie? Schreiben Sie?«
«Wir wollten so hoch hinaus, und wohin ist es mit uns gekommen«, sagte Judith nach einer Weile.
«Das ist mir zu sentimental. Sie müssen schreiben, die Zeiten ändern sich, und ich glaube nicht, daß Ihr Ausschluß von langer Dauer sein wird.«
«Ich will was trinken!«
«Nein.«
«Wollen Sie mir verbieten, mich zu besaufen?«
«Es ändert nichts, und Sie sind keine unreife Göre mehr.«
«Jawohl, Papa. «Judith Schevola langte unters Bett, fischte eine halbvolle Flasche» Kröver Nacktarsch «vor, trank sie in großen Zügen leer. Sie warf die Flasche in einen Karton neben dem Öfchen, wo sie auf anderem Glas zerbrach. Judith lachte rauh. Dann rollte sie sich auf dem Bett aus wie eine große Katze.»Haben Sie nie das Gefühl, explodieren zu müssen? Die Sterne vom Himmel zu rütteln? Wollen Sie nie von allen Speisen zugleich kosten, tanzen bis zum Umfallen, saufen bis zum Ausknips, in der Spielbank Ihr Geld verjubeln, pleite sein, nach einer schrecklichen Stunde zurückkommen und alles zurückgewinnen und noch mehr? Wollten Sie nie einen Fluß dazu bringen, aufwärts zu fließen?«
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