Traugott Pfeffer mochte Nebel nicht; er mochte Knoten und Marcel Proust. Christian hatte» zur Zufriedenheit «gearbeitet, er konnte — Übungen beim Schiffsarzt — Knoten machen, und er hatte den Namen Proust zumindest schon gehört.
«Gut, ich sehe«, sagte Traugott Pfeffer,»Sie sind reif für die B-Schicht.«
In der B-Schicht, die nachts arbeitete, wurden weder Orden noch Medaillen hergestellt, sondern die sieben Bände der Rütten & Loeningschen Ausgabe der» Recherche «von Proust gelesen.»Manchmal muß man die Menschen zu ihrem Glück zwingen«, meinte Traugott Pfeffer.»Hier ist mein Bereich, und einer nach dem anderen, der meine Nachtschicht passiert, liest die Suche — Blatt für Blatt, Band für Band. Schlafen ist nicht zulässig. Ich werde Sie prüfen, ob Sie würdig, weil gründlich sind. Damit. «Er zog ein Futteral aus seiner linken Hüft-Kitteltasche und entnahm eine im Elektrolytbad vergoldete, blinkend scharfgeschliffene Krawattennadel. Diese Nadel, erfuhr Christian von einem der zur Bewährung in der Produktion verurteilten Philosophen in der B-Schicht, stach Traugott Pfeffer in die Verlorene Zeit, schlug die Seite auf, las und begann zu fragen.»Machen Sie sich am besten Notizen«, sagte der Philosoph.»Wen er einmal für wert befunden hat, Proust zu lesen, kommt nicht aus der Nachtschicht heraus, ehe er das gesamte Werk kennt.«
Sie waren zu fünft; die anderen vier B-Schichtarbeiter, alle Philosophen, wenn auch aus unterschiedlichen Schulen, lieferten einander die ganze Nacht lautlose, aber erbittert, mit eiligem Bleistift auf Konzeptpapier gekritzelte, Dispute über Entfremdung in der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft.
«Richard.«
«Anne.«
«Kann ich mit dir reden.«
Richard trat vom Schraubstock zurück, in dem ein Ersatzteil für den Gasdurchlauferhitzer steckte, improvisiert und zurechtgefeilt nach einer Konstruktionszeichnung, die Ingenieur Stahl angefertigt hatte.»Gehen wir?«
«Nicht nötig. Die uns zuhören, wissen genausoviel wie wir. Oder willst du frische Luft schnappen? Ich würde, was du in diesem Keller atmest, keine fünf Minuten aushalten.«
Oben, im Wohnzimmer, sagte sie:»Ich kann nicht mehr, Richard. Ich habe lange geschwiegen und zugesehen. Aber diese Reina, diese Studentin … das war zuviel. Wir«, Anne lachte plötzlich auf,»müßten uns jetzt eigentlich streiten, aber, weißt du, ich mag nicht, ich … habe auch keine Kraft.«
«Ja, Anne«, murmelte Richard. Er berührte einige Dinge: Sofapolster, die Kante eines Schranks.»Ist Reglinde da?«
«Sie ist ausgegangen. Der Brief auf dem Tisch ist von Robert.«»Ich weiß, ich … habe ihn gelesen. Es geht ihm wohl ganz gut.«»Besser als Christian. Aber du sagst ja, daß Christian ein wenig zum Übertreiben neigt, wie nennst du das … Bramabas, bramasieren, ich krieg’s nicht zusammen. «Wieder lachte sie.
«Ja, Robert. Er hat nie so viele Probleme gemacht. Und doch — vielleicht sagt er nur nichts, weil das schon Christian, gewissermaßen … es ist schon Christians Stil, und vielleicht will Robert nicht so sein.«
«Die Standuhr, Richard, kannst du sie nicht anhalten? Ich kann das Ticktack nicht ertragen, es tut mir weh. Soll ich dir was zu trinken holen?«
«Ich kann auch gehen.«
«Du findest doch nichts. Was wolltest du noch sagen?«
«Es hat mir nichts bedeutet, Anne.«
Sie nickte, ging nach vorn. Richard hörte sie in der Küche hantieren, Eiswürfel klirrten in Gläser; er hielt das Uhrenpendel an. Es wehrte sich gegen den Stillstand, begann sich aus Mikroschwingungen wieder einzutakten, Richard mußte eins der Bleigewichte aushängen, legte es behutsam in den Uhrenkasten. Aus dem Flur hörte er Scheppern, das dumpfe Rumpeln eines Falls. Annes rechte Hand steckte voller Glassplitter.
«Wir müssen in die Klinik«, sagte Richard. Er überlegte einen Augenblick, dann rief er im Friedrich-Wolf-Krankenhaus an.»Barsano. — Ja, Sie können den Saal nutzen. Ich lasse alles vorbereiten.«
«Weißt du, damals auf der Hochzeit, in der Kirche, hast du dich verraten«, sagte Anne. Richard steuerte den Lada, fuhr unkonzentriert, überlegte, daß es besser gewesen wäre, mit dem Taxi zu fahren — nein. Taxis waren rar, sie hätten womöglich stundenlang auf eins gewartet. Einen Krankenwagen zu rufen war ihm seltsamerweise nicht eingefallen. Anne starrte auf die verbundene Hand.»Du hast geantwortet, als ich dich fragte, ob du den Jungen kennst: Nein. Vielleicht der Sohn eines Patienten. Woher wußtest du, daß es nicht der Sohn von Wernsteins Freund war?«
«Sie ist unsere Chefsekretärin«, entgegnete Richard müde. Die rote Nadel wanderte unruhig über die langgezogenen Zahlen des Tachometers. Er steuerte routinemäßig, als täte das ein anderes Lebewesen in ihm, ein Strichmännchen aus ein paar Nervenbahnen und zugeschalteten Muskeln. Wie fremd und dabei wichtig all dies war: Armaturenbrett, die Bäume an den Straßen, der Zündschlüssel.
«Dann hättest du nicht vielleicht gesagt. Übrigens habe ich Lucie schon gesehen. Hübsches Mädchen, sie hat viel von dir.«
Im Krankenhaus war alles vorbereitet worden. Frau Barsano bot an, Richard zu assistieren.
Annes Hand. Die Hand meiner Frau, dachte er. Weiß und blutleer (eine Schwester hatte den Arm ausgewickelt) lag sie im grellen, spöttischen Schein der OP-Lampe.
Eine Hand — was sie tut, ist das eine. Ein Stück Körper, Körper selbst, Gehilfe von Inszenierungen; beredte, scheinlose Wahrheit. Handlung, dachte Richard, dabei ist so vieles Fußlung oder Wortlung oder Schweiglung. Was sie verhindert, vielleicht nur, indem sie ruht (»schweigt«), ist das andere. Beides interessierte ihn. Er liebte Hände. Hände gehörten zu den Belebungen, bereiteten ihm Freude. Er hatte Hände studiert: die seelilienhafte Weiblichkeit der Botticellifrauenfinger (das waren Finger, aber machten sie nicht die Hände aus?); Hände, die stur von etwas überzeugt waren; Hände, gleichsam verzweifelt über ihre Größe und das unaufhörlich stete Verlassen der Kindheit; gecremte und ungecremte Hände, girrende und moosartig unergründliche Hände; Hände von Gärtnerinnen, in die sich Pflanzensäfte gegerbt, und Heizern, in die sich der Kohlenstaub gefressen hatte unabwaschbar; er hatte die Hände eines Schmetterlingskundlers gesehen (und der hatte sie als kraftlose Narren bezeichnet); die Hände seines Vaters beim Untersuchen einer Uhr: all diese — ihm jetzt geisterhaften — Hände mit dem Spurenelement Zärtlichkeit. Ertaubte Hände, Finger, zerbrechlich wie Wachtelknochen, und hatten Städte verändert. Hände von Bäuerinnen, knotig, geflochten aus Härte und Kälte und lebenslanger Schufterei, Querner hatte sie gemalt: sie schienen mehr aus Holz als aus Fleisch zu bestehen, die Finger waren krumm von Gicht und Arthrose und von Schlägen: abgewehrten und ausgeteilten. Dabei fand Richard Hände auch manchmal kurios, die Doppelung schien der Hand etwas von ihrem Wert zu nehmen, an schimmernder Präzision. Warum haben Zyklopen nur ein Auge? Damit es bedrohlicher blickt, damit es ablenkungsloser zugeht. Eine Hand, zwei Hände: um den fremden Leib — oder den Hals — von beiden Seiten zu umfassen, um in Stereo zu liebkosen; zu morden. Bitternislinien. Manche wirkten unruhig vor Unveränderlichkeit. Da, diese Narbe — erinnerst du dich? Auf der Hochzeitsreise, die war, wie die Reisen unserer Jugend eben waren: kurze Entfernungen, für den» Berlin«-Motorroller erreichbar, Rheinsberg und Havel: Äpfel im Gegenlicht, rauh von Nachttau, in den Fenstern Kürbisse, pampelmusengroß, gestreift wie Hosen von Operntürken, manche beigefarben mit grünen Schlacken, manche wie Turbane, die sich plusterten, andere birnenförmig, gelb und dunkelgrün, zwischen den Farben eine scharfgezogene Grenze. Die Panne unterwegs, Anne rutschte mit dem zweiten Schraubenzieher ab.
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