Dr. Focke, der am St. Joseph-Stift als Leitender Urologe arbeitete, war, wie viele Urologen, ein zu Tobsucht und sprachlicher Direktheit neigender Mann.
«Dann werde ich eben nach Dresden fliegen«, erklärte der Minister seinem Adjutanten.»Muß sowieso mal an der Militärakademie nach dem Rechten sehen. Lassen Sie in diesem Krankenhaus alles vorbereiten und machen Sie den Hubschrauber klar. Ich wünsche, daß dieser Focke mich übermorgen operiert.«
Dazu erklärte sich Dr. Focke bereit. Er bitte um sofortige Übergabe aller Unterlagen. Ein Einzelzimmer stehe für den Herrn Minister zur Verfügung, das Kruzifix über dem Bett werde er jedoch nicht entfernen lassen.
Der Minister, der viele Kompanien, Bataillone und Regimenter geführt, an der Ostfront als junger Offizier Offensiven befehligt und die Zuchthäuser der Nazis kennengelernt hatte, war, wie viele Militärs, ein zu Tobsucht und sprachlicher Direktheit neigender Mann.
«Und so«, erklärte Niklas Tietze, indem er die hölzerne Rückenbürste glücklich in Richtung Kellerdecke stieß, wobei der Bürstenkopf, den man aus einer Kollektion gegen 20 Pfennig Bürstengeld mieten konnte, sich vom Stiel löste und ins benachbarte Duschabteil fiel,»und so kam es zu einem Kompromiß.«
Er bestand nicht etwa darin, daß nun, wie jeder vernünftige Mensch hätte denken können, auf ein anderes Dresdner Krankenhaus ausgewichen worden wäre. Dr. Focke wollte das erprobte Team um sich haben, wollte sich ganz auf die Aufgabe konzentrieren können und nicht» fremde Luft atmen«, wie er dem Adjutanten am Telefon erklärte. Immerhin handele es sich um den Minister! Dieser sollte, erklärte Niklas den verdutzt im Badewasser und unter tröpfelnden Duschen Lauschenden, über die Telefon-Mithörmuschel im Bilde gewesen sein und zuerst hochrot, dann grimmig lächelnd, die Muschel in der Hand quetschend und» nu sajaz — pogodi «grummelnd, auf- und abgestapft sein. Na warte, Hase!
«Dann sah er sich eine Karte von Dresden an und tippte auf einen großen grünen Fleck. «Der große grüne Fleck, in dessen Nähe, jenseits der verkehrsbelebten Stübelallee, das St. Joseph-Stift lag, war der Große Garten. Genau dort, auf eilig rekognoszierter und für geeignet befundener Wiese, auf die allerdings schon feindlich-negativer Rauhreif gefallen war, wurde von der außerplanmäßig alarmierten, in Dresden stationierten 7. Panzerdivision und von Offiziersschülern der Militärakademie» Friedrich Engels «ein Zeltstädtchen errichtet. Die Dresdner mögen sich gewundert haben, warum an jenem Tag die vielbefahrene Stübelallee, die ebenso vielbefahrene Dr.-Richard-Sorge-Straße, die Güntzstraße bis Sachsenallee und Brücke der Einheit umgeleitet wurden, warum die Freilichtbühne» Junge Garde«, die Ausstellungshallen am Fučikplatz, selbst der Zoologische Garten auf der anderen Seite des großen grünen Flecks geschlossen blieben! Nur die kleine Pioniereisenbahn, die fröhliche Schulkinder durch die Morgenfrische fuhr, hatte man vergessen, worüber der Adjutant des Ministers in Wut geriet: Dieses Gepfeife könne den Doktor stören, es sei sofort abzustellen! Der Adjutant, ein weitblickender Mann, hatte sogar bedacht, daß das Operationsgebiet, da auf einer im Freien gelegenen Wiese befindlich, in seiner Statik gefährdet sein könnte — ein Rückruf bei der zuständigen Behörde hatte seinen Verdacht erhärtet: man wurde der Wühlmausplage schon lange nicht mehr Herr. So hatten, beim Schein von Taschenlampen, mehrere Kompanien Soldaten handelsübliche Karbidpatronen in Erdlöcher geschoben, den lastenden Dunst hatte man noch am Operationsmorgen mit Hilfe eines auf einen LKW montierten Flugzeuggebläses vertreiben können.»Und Focke?«fragte Herr Kühnast.
«Vier Stunden hat er gebraucht. Er hat mir gesagt, daß er es genossen hat.«
«Arme Gudrun«, murmelte Meno.
Doch Gudrun begann zu singen:»Hab’ mein Wa-ge vollgela-de «und»’s Brausebad, ’s Brausebad, das macht erfrischend munter, die Anni einen Liebsten hat, das ist der schöne Gunter …«, einen Text, den sie allein sang, denn sie pflegte solche Verse, die Kinder, Niklas und sich selbst schrubbend, aus dem Stegreif unter der Dusche zu verfassen. Dann kam etwas von der Mädchenfröhlichkeit zurück, die sie» im Überschaum «gehabt haben mußte und die in seltenen Stunden, manchmal aus dem Nichts, zurückkehrte. Dann konnte es geschehen, daß Gudrun sich eine Waschschüssel über den Kopf stülpte, Herrn Orré, wenn er in der Nachbarkabine duschte, etwas zurief, worauf der Schauspieler nackt, nur mit Waschschüssel auf dem Kopf und einem altersschwachen Regenschirm, der das Spritzwasser der ersten Duschkabine von den Badewannen abhielt, auf den Gang hüpfte und mit Gudrun Tietze folgenden badelatschenklappernden Steptanz, begleitet vom eher brüllenden als melodischen Gesang der Badehäusler, wagte:»Wir war’n schon oft ganz pleite, / vor der Pleite, ja, das sucht man gern das Weite, / doch jetzt hab’ ich ’nen neuen Hut, / denn jetzt geht es mir gut. // Drum bleibe immer munter, / im Leben geht’s mal rauf und geht’s mal runter, / und ging’s auch manchmal kreuz und quer / heut’ bin ich Millionär!«
Herr Unthan hatte Mühe, an den Tanzenden vorbeizukommen. Die Eimer mußten geleert werden — in die Speicherballons aus Zink, die ähnlich wie Toilettenspülkästen, nur höher, um den nötigen Wasserdruck zu erzeugen, an der Kellerdecke hingen. Um das Wasser aus den Eimern in die Behälter zu bekommen, waren an den Wänden der Duschzellen Schienen angebracht, über die Seilaufzüge mit Kippklinken liefen, an denen die Eimer befestigt wurden. Wenn Herr Unthan einen über den Seilaufzug wirkenden Hebel zog, kippte der Eimer in knapp drei Metern Höhe nach vorn und entleerte sich in das Speichergefäß, in dem genügend Wasser für den Duschgang einer vierköpfigen Familie vorrätig gehalten werden konnte. Da es nur zwei Eimer gab, war es nicht sinnvoll, das Duschen insofern abzukürzen, daß man sich, wie es manche intelligente Beobachter hatten tun wollen, den Eimerinhalt ohne Umweg über die Köpfe goß. Erstens war das kein Duschen und hätte Herrn Unthans Berufsehre gekränkt; zweitens wies eine Unfallverhütungsvorschrift auf die Unzulässigkeit solchen Verfahrens hin.
«Tach, Herr Rohde. Nichts für ungut, der Herr Unthan hat mich mit zu Ihnen in die Banja gesteckt.«
«Tach, Herr Adeling. Auch kein Wasser mehr zu Hause?«
«Ach, wissen Sie, das Wasser durchaus, aber die Geschichten, Herr Rohde, die Geschichten. Darf ich meine Seife mal neben Ihre legen? Auf Ihrer zwinkert ja eine Katze, ganz unverwechelbar.«
Zahnärztin Knabe erzählte die Geschichte vom vertauschten Kind. Und während sie erzählte, sah Meno die Roecklers vor sich, Betreiber der gleichnamigen Tanzschule am Lindwurmring, deren Tochter die unerhörte Begebenheit, seit Monaten in vieler Dresdner Mund, zugestoßen war.
«Eines Tages ist die Silke Roeckler, die jüngste Tochter, in das Lazarett-Magasin gegangen. Man kann da hinein, die Posten lassen einen durch, und manchmal gibt es in diesem Magasin Sachen, die weder der Saftladen noch die Süße Ecke noch der Konsum haben.«
Meno hörte das Klacken der Abakuskugeln, das Zahnärztin Knabe lautmalerisch nachahmte, wobei ihr stolzer Busen zur Freude der Herren im gegenüberliegenden benachbarten Duschverschlag reizvoll gegen die Kunststofftür drückte. Frau Roeckler war klein und wächsern blaß in ihrem weißen Plisseekleid zu den Goldlamé-Schuhen, die sie während der Tanzstunden als Partnerin des in schwarzen Frack gekleideten Ehemanns trug. In tadelloser Haltung, puppenhaft geschminkt, anmutig wie eine Porzellanfigur von Kändler, schwebte sie wie ein Hauch, das noch immer schwarze Haar zu einer Fünfzigerjahrefrisur aufgeglänzt, über den Schachbrettboden in der ersten Etage der Tanzschule, begleitet vom nieselnden Flügel an der bleichblättrigen Monstera, auf die, wenn der mittlere Straßleuchter eingeschaltet wurde, der Schatten eines von der Stuckdecke herabhängenden, aus der Vogelhandlung Bassaraba stammenden, ausgestopften Baumfalken fiel.
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